Montag, 14.12.2020 11:50 von Gerd Kommer | Aufrufe: 855

Wertpapierleihe bei ETFs – ist sie gefährlich?

In diesem Beitrag befassen wir uns mit Wertpapierleihe, die im Wertpapierbestand der meisten ETFs stattfindet. Die Darstellungen und Einschätzungen in den Finanzmedien zu Wertpapierleihe bei ETFs enthalten oftmals gravierende Fehler.

Das Thema Wertpapierleihe poppt mit schöner Regelmäßigkeit in den Finanzmedien und in Finanz-Blogs im Zusammenhang mit angeblichen Strukturrisiken von ETFs auf. Weil die Aussagen zu Wertpapierleihe in diesen Veröffentlichungen häufig oberflächlich sind und manchmal geradezu haarsträubende Fehler enthalten, unterziehen wir den Sachverhalt Wertpapierleihe bei ETFs in diesem Beitrag einer faktenorientierten Betrachtung. Dabei gehen wir auf die acht wichtigsten  Fragen und Sachverhalte zu Wertpapierleihe ein.

(1) Was ist Wertpapierleihe? Wie funktioniert sie?

Wertpapierleihe ("WPL") ist eine zwischen institutionellen Investoren seit Jahrzehnten weltweit verbreitete Praxis. Sie ist aufsichtsrechtlich eng reguliert, stellt einen hochgradig standardisierten Prozess dar und leistet einen vielfach übersehenen "stillen Beitrag" zum Funktionieren der internationalen Wertpapiermärkte.

Wertpapierleihe läuft typischerweise folgendermaßen ab: Der Eigentümer eines Wertpapiers (z. B. ein aktiv gemanagter Investmentfonds, ein ETF oder ein Sovereign Wealth-Fonds, wie der norwegische Ölfonds) verleiht ein Wertpapier (eine Aktie oder eine Anleihe) für eine begrenzte Dauer an einen Leihnehmer. Der Leihnehmer ist ein anderer institutioneller Investor, z B. ein Hedge-Fonds. Der Leihnehmer zahlt dem Leihgeber (dem ETF) am Ende der Leihperiode eine Leihgebühr, z. B. 0,1% des Wertes der Leihsache per annum (ein 365stel von 0,1% pro Tag). Üblicherweise beträgt die Leihperiode nur wenige Tage. Während der Leihperiode stellt der Leihnehmer dem Leihgeber Sicherheiten zur Verfügung, z. B. Cash (Barmittel) oder hochliquide Wertpapiere wie kurzfristige Staatsanleihen westlicher Staaten mit hoher Bonität.

Der Wert der Sicherheiten muss in der EU bei Investmentfonds für Privatanleger ("UCITS-Fonds"), also auch bei ETFs mindestens 105% oder 110% des Wertes der Leihsache betragen. Eine Übersicherung ist mithin rechtlich vorgeschrieben. Die Sicherheiten sind fast ausnahmslos wertstabiler (weniger volatil) als die Leihsache. Sowohl der Wert der Leihsache als auch der Wert der Sicherheiten werden automatisch einmal täglich neu geprüft. Sollte die Besicherungsquote (der "Loan to Value") am Tagesende unter die o. g. Mindestquote fallen, muss der Leihnehmer am Beginn des nächsten Tags nachbesichern, sprich die Sicherheiten betraglich aufstocken oder einen Teil der Leihsache zurückgeben. Weil  die Sicherheiten wenige volatil als die Leihsache sind, erhöht sich bei negativen Markttrends (die ja "generell" für den ETF-Anleger nachteilig sind) innerhalb eines Tages im Regelfall das Ausmaß der Übersicherung. Das müsste vom ETF-Anleger als positiv angesehen werden.

Die WPL-Gebühren eines bestimmten Wertpapiers (die WPL-Einnahmen aus der Sicht eines ETFs, der WPL praktiziert) sind tendenziell umso höher, je illiquider das verliehene Wertpapier ist, je weniger häufig es getradet wird und je mehr Leerverkäufe (Short-Selling) allgemein für das Wertpapier stattfinden. Short-Selling ist auf Leihnehmerseite der Hauptgrund für WPL. Mehr zu Short-Selling weiter unten in Ziffer 3.

Der Leihgeber ist somit doppelt abgesichert. Erstens, haftet der Leihnehmer direkt mit seinem gesamten Vermögen für die Rückgabe der Leihsache und zweitens hat der Leihgeber unmittelbaren Zugriff auf die Sicherheiten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit jederzeit gleich viel oder mehr wert sind als die Leihsache. Es existieren eine Vielzahl weiterer aufsichtsrechtlich vorgeschriebener prozessualer und logistischer Sicherheitsmerkmale, auf die wir hier aus Platzgründen nicht im Detail eingehen können, z. B. welche Arten von Wertpapieren als Sicherheit zulässig sind, wie hoch der Anteil der verliehenen Wertpapiere zu einem gegebenen Zeitpunkt maximal sein darf oder wer überhaupt als Konto- oder Depotstelle, bei der Sicherheiten deponiert sind, agieren darf.

Sollte es während der Leihperiode bei dem verliehenen Wertpapier zu Dividenden- oder Zinszahlungen kommen, fließen diese an den Leihgeber (den ETF). An wen etwaige laufende Erträge (Zinsen, Dividenden) aus den Sicherheiten, die der Leihnehmer stellt, fließen, wird einzelfallabhängig vereinbart.

Etwaige Stimmrechte – sofern es während der Leihperiode bei einer Aktie zu einer Aktionärsversammlung kommt – darf normalerweise derjenige ausüben, der in diesem Moment der Besitzer, also der Inhaber der Aktie ist. Das ist logischerweise nicht der Leihgeber, es ist aber in den meisten Fällen auch nicht der Leihnehmer, sondern eine weitere, dritte Partei. Die Details hierzu werden in Ziffer 6 weiter unten erläutert.

(2) Wer praktiziert Wertpapierleihe?

Die kurze Antwort auf diese Frage ist: "Alle", soll heißen, dass grundsätzlich alle Arten institutioneller Anleger WPL praktizieren: Aktiv gemanagte Investmentfonds, ETFs, Hedge-Fonds, staatliche Pensionsfonds (das größte Fonds-Segment weltweit überhaupt), Sovereign Wealth-Fonds, andere Typen institutioneller Fonds, Banken, Versicherungen – einfach alle. Mit anderen Worten, die Teilnehmer am WPL-Markt sind die größten und professionellste Finanzinvestoren auf diesem Planeten.

Es ist ein Kuriosum, dass sich "kritische Diskussionen" über WPL fast ausnahmslos auf WPL bei ETFs konzentrieren. Warum WPL bei anderen, dem Investmentvolumen nach bedeutenderen Fonds-Typen, z. B. aktiv gemanagten Investmentfonds oder Pensionsfonds, Privatanleger und "kritische Journalisten" nicht zu interessieren scheint, wissen wohl nur die Götter.

(3) Warum wird Wertpapierleihe gemacht?

Wie in der Antwort zu Frage 1 bereits angedeutet, kann der Eigentümer eines Wertpapiers, für das Entleihnachfrage besteht, durch WPL Zusatzerträge erzielen, die zu der konventionellen Marktrendite des Wertpapiers (Zinsen, Dividenden, Kursgewinne) hinzukommen. Aus der Sicht der Anleger in einem ETF ist es die Aufgabe des ETF Providers (derjenige, der den ETF anbietet und verwaltet) im Rahmen von Recht und Gesetz sowie den Vorgaben des Fondsprospekts, die Rendite für den Anleger zu maximieren und potentielle Renditequellen nicht ungenutzt zu lassen, sprich zu vergeuden. Im übertragenen Sinne könnte man argumentieren, dass genauso, wie man in einem vernünftig wirtschaftenden Privathaushalt nützliche, verwertbare Lebensmittel und andere Ressourcen nicht einfach wegwirft, in einem "ETF-Haushalt" die Ertragsquelle WPL nicht "weggeworfen" wird.

Bedenkt man, dass Privatanleger bei ETFs (zu Recht) einen ETF A beim Kauf gegenüber einem ansonsten identischen ETF B bevorzugen, wenn die Tracking-Differenz von A um 0,1% p.a. besser ist als die von B, dann sollte es nicht überraschen, dass der Provider von ETF A WPL nutzt, denn diese steuert im Mittel etwa 0,1% p.a. und in manchen Fällen mehr zur Gesamtrendite des ETFs bei. (Die Tracking-Differenz ist die Differenz der Rendite des ETFs und der Rendite des von ihm abgebildeten Wertpapierindex, der im Unterschied zum ETF bekanntlich keine Betriebskosten enthält. Die Tracking-Differenz wird oft für einen Zeitraum von einem Jahr bzw. als annualisierte Zahl angegeben.)

(4) Der Nutzen und die Risiken von Wertpapierleihe

Der Nutzen von WPL ist leicht erklärt: WPL verbessert die Gesamtrendite eines ETFs für die Anleger gegenüber dem Alternativszenario "Verzicht auf WPL". Wie hoch dieser Renditebeitrag ist, hängt naturgemäß vom Einzelfall ab. Er liegt in der Regel um 0,1% p.a. und kann in seltenen Einzelfällen 1,0% p.a. übersteigen. Dass diese WPL-Vergütungen "fair" sind, können wir aus dem Faktum schlussfolgern, dass sie in einem globalen, liquiden, gut regulierten, funktionierenden Markt zwischen großen Profiinvestoren zustande kommen.

Viele Privatanleger glauben irrtümlich, es spiele eine Rolle, an wen die WPL-Erträge fließen – an den ETF Provider oder den ETF selbst. Hier haben wir es mit einem ökonomischen Denkfehler zu tun, der Verwechslung eines oberflächlichen, formalistischen Teilaspekts mit dem wirklich relevanten fundamentalen Gesamtzusammenhang. Zur Illustration: Die beiden Aktien-ETFs X und Y bilden den gleichen Index ab und betreiben beide WPL. Bei ETF X fließen alle WPL-Einnahmen dem ETF (also direkt dem Anlegervermögen) zu, bei ETF Y jedoch nur 60%. Die anderen 40% gehen an den ETF Provider. Ist ETF X deswegen zu bevorzugen? Antwort: Nein. Angenommen die beiden ETFs sind in jeder anderen Hinsicht identisch, dann ist derjenige mit der besseren Tracking-Differenz oder höheren Rendite – und das kann durchaus auch Y sein – zu präferieren. Dagegen ist die Aufteilungsquote für die WPL-Erträge für sich genommen irrelevant. Warum? Im Falle von ETF Y könnte der ETF Provider die besagten 40% der WPL-Einnahmen nutzen, um die Verwaltungsgebühr im Gegenzug zu senken oder andere operative Vorteile für den ETF damit zu finanzieren. Wenn er das tut, dann wäre der "WPL-Verteilungsmodus" in Isolation möglicherweise ein irreführendes Entscheidungskriterium. Im Ergebnis kann Y jedenfalls der für Anleger besser rentierende ETF sein, obwohl bei ihm ein kleinerer Teil der WPL-Erlöse auf direktem Wege den Anlegern zugute kommt.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die "Laufenden Kosten" (der Total Expense Ratio/TER) eines ETFs etwaige kostensenkende Einnahmen aus WPL aufsichtsrechtlich nicht berücksichtigen dürfen, was den Sachverhalt weiter verkompliziert.

Ergo: Anleger sind schlecht beraten, wenn sie die Aufteilungsquote bei der WPL als ETF-Auswahlkriterium verwenden.

Nun zum Risiko aus WPL. Aus der Sicht eines Privatanlegers in einem ETF könnte es dann zu einem Schaden durch WPL-Geschäfte für einen ETF kommen, wenn folgende drei Risiken sich gleichzeitig materialisieren:

(a)    Innerhalb eines einzelnen Tages entwickeln sich die Marktwerte der Leihsache und der Sicherheiten so, dass die Übersicherungsquote (siehe Ziffer 1) unterschritten wird. Statistisch ist dieser Fall eher selten. Dies geschieht in den allermeisten Fällen nur dann, wenn der Wert der Leihsache am betreffenden Tag stark steigt.

(b)   Es kommt innerhalb eines Tages zu einem Absinken der Loan to Value-Quote unter 100%  und der Leihnehmer ist wirtschaftlich am Ende dieses einen Tages nicht fähig, die Differenz aus seinen allgemeinen wirtschaftlichen Ressourcen auszugleichen (Nachbesicherung). Dieses Unvermögen ist unwahrscheinlich, da der Leihgeber vor Einstieg in das WPL-Geschäft den Leihnehmer einer Bonitätsprüfung unterzieht, und weil WPL-Geschäfte generell sehr kurze Laufzeiten haben.

(c)    Der ETF Provider ist nicht freiwillig bereit und in der Lage in einem Schadensfall einzuspringen, der trotz der spezifischen Sicherheiten und trotz des Zugriffs auf die allgemeinen Vermögenswerte des Leihnehmers entstanden ist. Dass er das freiwillig tun würde, ist deswegen anzunehmen, weil der langfristige Reputationsschaden aus einer Verweigerung den kurzfristigen wirtschaftlichen Nutzen der Verweigerung überstiege. Tatsächlich haben einige ETF Provider begrenzte Zusagen dafür abgegeben, in solchen Fällen einzuspringen (zu zahlen), obwohl sie aufsichtsrechtlich nicht dazu verpflichtet wären.

Dass diese Argumente zur Erklärung des sehr geringen Risikos von WPL nicht nur graue Theorie sind, wird nachfolgend in Ziffer 5 verdeutlicht.

(5) Die Historie von Wertpapierleihe

WPL in der modernen, hier beschriebenen Form existiert seit über 50 Jahren. In dieser langen Zeit wurde der WPL-Prozess immer effizienter und robuster gemacht und seine staatliche Regulierung in den großen Kapitalmärkten der Welt immer granularer, moderner und schärfer.

Bei an Privatanlegern vertriebenen Investmentfonds (so genannte "UCITS-Fonds" in der EU und "Mutual Funds" in Nordamerika) hat es unseres Wissens in diesen fünf Jahrzehnten weltweit keinen einzigen (!) Fall gegeben, in dem ein Privatanleger aus WPL einen wirtschaftlichen Schaden erlitt. Dieser makellosen Bilanz stehen 50 Jahre Nutzen, also Mehrrendite aus WPL für die Anlegergemeinschaft gegenüber. Ein derart eindrucksvoller Track Record findet sich in der Finanzbranche im Allgemeinen und bei Finanzprodukten im Speziellen sehr selten.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass in diesem halben Jahrhundert fünf schwere "Stresstests" am globalen Aktienmarkt stattfanden. UCITS-Fonds/ETFs, von denen die deutliche Mehrheit WPL betreibt (siehe Zahlenangaben weiter unten), haben in rechtlicher Hinsicht alle fünf Tests bravourös bestanden: Den Ölkrisen-Crash 1972/73, den Kurzzeit-Crash im Oktober 1987 mit einem börsengeschichtlich einmaligen Tagesverlust von über 20%, den Dotcom-Crash 2000-2002, die Große Finanzkrise 2008/2009 und den Corona-Crash Anfang 2020.

(6) Warum hat Wertpapierleihe bei manchen Anlegern einen schlechten Ruf?

Die allermeisten Leihnehmer bei WPL sind Hedge-Fonds, die eine Aktie zu Leerverkaufszwecken benötigen. Ein Leerverkäufer spekuliert auf einen kurzfristig fallenden Aktienkurs. Um eine Aktie leer zu verkaufen (zu "shorten"), muss man sie aber erst besitzen. Über die Mechanik von Short-Selling irrlichtert seit Jahrzehnten durch Ratgeberbücher und Internet-Blogs die falsche Behauptung, dass ein Short-Seller etwas verkaufe, das er nicht besitze. In Wirklichkeit besitzt der Short-Seller die Aktie im Moment des Verkaufes, andernfalls würde sich ein normaler Käufer ja aus offensichtlichen Gründen gar nicht auf den Handel einlassen. Der Short-Seller verschafft sich vor dem Verkauf über das Leihgeschäft zivilrechtlichen Besitz (Inhaberschaft) an der Aktie. (Bei "Naked Short Selling" erfolgt tatsächlich ein Verkauf ohne vorherigen Besitz, aber Naked Short Selling ist in den meisten Staaten verboten, wäre selbst ohne dieses Verbot eine seltene Ausnahme und betrifft ETFs so oder so nicht.)

Am Ende der Leiperiode (z. B. nach zwei Wochen) kauft der Short-Seller die Aktie am freien Markt, um sie dann dem Leihgeber zurückzugeben. Wenn der Aktienkurs in diesem Augenblick niedriger ist als zu Beginn des Short Sales (und zu Beginn der Leihperiode), hat der Short-Seller Geld verdient.

Short-Selling existiert seit über 400 Jahren. Nicht nur ist es ein uraltes Phänomen, Fachleute sind sich auch darin einig, dass Short Selling ein notwendiger Teil eines gesunden Kapitalmarktökosystems ist. Short-Selling trägt zur Informationseffizienz von Märkten und zur Markthygiene bei, indem es hilft, überbewertete, zu teure Wertpapiere einem realistischeren, nachhaltigeren Wert anzunähern und indem es – bildhaft gesprochen – inkompetente oder verschwenderische Vorstände auf ihre angemessene Größe "zurechtstutzt". Short-Seller waren in zahllosen Fällen die "Helden", die früher oder entschiedener als Aufsichtsbehörden, Staatsanwälte und Gerichte dabei halfen, betrügerische Machenschaften in Unternehmen aufzudecken und zu bestrafen – zuletzt bilderbuchmäßig im Fall Wirecard.

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich keine Zweifel über den volkswirtschaftlichen Nutzen von Short-Selling. Auch Aufsichtsbehörden und Zentralbanken sehen das in ihren Grundsatzuntersuchungen ebenso, z. B. die für den Wertpapierhandel in der EU wichtigste Behörde, ESMA (European Securities and Markets Authority) und die Bundesbank.

Noch zur offenen Frage aus Ziffer 1: Wer übt ein Stimmrecht aus, wenn es während der Verleihzeit zu einer Aktionärsversammlung kommt? Das ist derjenige, der die Aktie vom Short-Seller gekauft hat und nun Eigentümer ist. Sofern der Verleiher (der ETF) den Verlust seines Stimmrechts nicht will, muss er auf eine Verleihung der Aktie in diesem kurzen Zeitraum (typischerweise ist das ein Tag pro Jahr) verzichten oder eine entsprechende "Loan Recall-Bestimmung" in den WPL-Vertrag hineinnehmen. Beides geschieht häufig.

(7) Die Regulierung von Wertpapierleihe

In der EU basiert WPL, soweit sie von UCITS-Fonds (einschließlich ETFs) durchgeführt wird, auf der "Securities Financing Transactions Regulation" (SFTR) der EU. Dieses Gesetzeswerk regelt die wesentlichen risikorelevanten Aspekte von WPL. Anfang 2020 brachte die SFTR eine weitere Verschärfung der zuvor geltenden WPL-Regularien. Die oben erwähnte ESMA und andere halbstaatliche Finanzmarktgremien haben mehrere gesonderte Guideline-Papiere, zum Teil bindend, zum Teil mit Empfehlungscharakter, zur praktischen Umsetzung der SFTR durch Marktteilnehmer veröffentlicht. In den USA existieren ähnliche WPL-Regularien. Insgesamt ist WPL ein umfassend und streng regulierter Typus von Finanzmarktransaktion.

(8) Wie hoch ist der Anteil von WPL-ETFs?

Anfang Dezember 2020 waren auf der Website www.extraETF.de 1.788 ETFs gelistet, also ETFs, die von ihren Anbietern zum Vertrieb an Privatanleger in den deutschsprachigen Ländern vorgesehen sind (weltweit dürften aktuell etwa 7.000 ETFs existieren).

Unter diesen 1.788 ETFs scheidet ein Teil von Vornherein aus sachlichen Gründen aus dem "WPL-Kandidatenuniversum" aus, darunter ETFs, die Nicht-Wertpapierindex-Underlyings (z. B. Rohstoffe, Edelmetalle, Krypto-Währungen oder Hedge-Fonds-Indizes) abbilden, und fast alle Swap-ETFs ("synthetische" ETFs). Bei Swap-ETFs wäre WPL zwar im Prinzip denkbar, sie lohnt sich finanziell bei ihnen aber nahezu nie. Die Gründe dafür werden hier aus Platzgründen nicht ausgeführt.

Wenn sich WPL für einen ETF nicht lohnt, dann ist es rational für den ETF-Provider WPL von Vornherein vertraglich ("offiziell") im Fondsprospekt auszuschließen, weil er damit die Minderheit der "WPL-Gegner" unter allen Privatanlegern besonders anspricht, ohne dafür ein ökonomisches Opfer bringen zu müssen. Er hätte ja sowieso keine WPL praktiziert, auch nicht, wenn sie gestattet gewesen wäre.

Von den 799 physisch replizierenden Aktien-ETFs (den Nicht-Swap-Aktien-ETFs) waren gemäß www.extraETF.de im Dezember 2020 749 für WPL zugelassen. Das sind 94%. Von den 357 physisch replizierenden Anleihen-ETFs waren 180 für WPL zugelassen, was einer WPL-Quote von rund 50% entspricht. Der niedrigere Anteil bei Anleihen-ETFs erklärt sich dadurch, dass WPL bei sehr liquiden (stark gehandelten) Anleihen, z. B. Staatsanleihen großer Industrieländer, wirtschaftlich uninteressant ist, da für diese Wertpapiere keine ausreichende Entleihnachfrage existiert. In solchen Fällen wird der ETF Provider dann WPL – ähnlich wie bei den meisten Swap-ETFs – vertraglich ausschließen, weil das in dieser Konstellation zu einem kleinen Marketing-Vorteil führen könnte.

Wir können daher schlussfolgern, dass WPL da, wo sie ökonomisch für den ETF attraktiv ist, mit großer Wahrscheinlichkeit auch durchgeführt wird.

(9) Sollte man ETFs, die Wertpapierleihe betreiben, eher vermeiden?

Nach den vorhergegangenen Ausführungen dürfte unsere Antwort auf diese Frage keinen Leser überraschen: WPL ist alles andere als ein Negativmerkmal, eher das Gegenteil. Angenommen die Autoren dieses Textes stünden vor der Entscheidung zwischen zwei ETFs zu wählen, die in allen uns bekannten Merkmalen identisch sind und deren historischen Renditen und Tracking-Differenzen wir nicht kennen oder die uneindeutig sind. Der einzige Unterschied zwischen den beiden ETFs besteht darin, dass einer davon WPL praktiziert, der andere nicht. Hier würden wir den WPL-ETF wählen, weil dieser ETF auf Dauer eine etwas höhere Rendite produzieren sollte. Diese Mehrrendite vergütet das minimale Zusatzrisiko aus WPL angemessen.

Fazit

Über 90% aller physisch replizierenden Aktien-ETFs und etwa 50% aller Anleihen-ETFs betreiben WPL. Sie ist ein häufig zu Unrecht kritisiertes ETF-Attribut. Merkwürdigerweise wird WPL überwiegend nur bei ETFs bemängelt, obwohl WPL bei jedem anderen Fondstypus ebenfalls aufsichtsrechtlich zulässig ist und in der Praxis stattfindet. Die Kritik an WPL beruht unseres Erachtens vorwiegend auf Wissenslücken und Denkfehlern und dem zu Unrecht schlechten Image von Short Selling. Auf einer übergeordneten Ebene trägt WPL zur Informationseffizienz der Wertpapiermärkte bei, die vor allem Privatanlegern und am meisten passiven ETF-Anlegern nützt. Auf der direkten ETF-Ebene verbessert WPL die Rendite, die im Portemonnaie von Privatanlegern ankommt. Diese Mehrrendite repräsentiert eine adäquate Kompensation für das minimale mit WPL einhergehende Zusatzrisiko.


Über den Autor

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Gerd Kommer Invest GmbH
Dr. Gerd Kommer ist Geschäftsführer der Gerd Kommer Invest GmbH, München. Das Unternehmen berät vermögende Privatkunden, Family Offices und Stiftungen in ihren Finanzangelegenheiten. Bis Ende 2016 war Kommer 24 Jahre bei europäischen Großbanken und Asset Managern tätig; zuletzt als Leiter der Niederlassung London und Global Head of Infrastructure & Asset Finance der FMS Wertmanagement, ein Asset Manager, der dem deutschen Staat gehört. In dieser Position verantwortete er ein Portfolio aus strukturierten Krediten und Anleihen im Volumen von 16 Mrd. Euro. Kommer hat mehrere Bücher zu Investmentthemen veröffentlicht. Er studierte BWL, Steuerrecht und Politikwissenschaft in Deutschland, USA und Liechtenstein.
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