Donnerstag, 24.02.2022 12:11 von Gerd Kommer | Aufrufe: 1061

"Equilibrium Accounting" – ein smartes Denkkonzept für Anleger

In diesem Beitrag befassen wir uns mit der wenig bekannten ökonomischen Sachlogik des Equilibrium Accounting. Damit können Privatanleger bestimmte "investmentpornographische" Aussagen in den Finanzmedien als den Nonsens entlarven, die viel zu häufig sind.

2021 war ein fantastisches Aktienjahr. Der MSCI World produzierte eine Jahresrendite von 33%, der DAX eine von 16% (beide Angaben in Euro). Damit erleben wir seit fast 14 Jahren überdurchschnittliche Aktienmarktgewinne. Auch deutsche Immobilien rentierten 2021 und in den Jahren seit 2010 weit über ihrem historischen Mittelwert. Lediglich die Renditen von Gold waren 2021 und auch über die zehn Jahre davor anämisch.

Wenn es an wichtigen Investmentmärkten so lange auf so breiter Front nach oben geht, vergisst mancher Anleger, wie es sich anfühlt, wenn die Märkte heftig und über lange Zeit anhaltend "nach Süden" driften. Die dann entstehende unangenehme Gefühlslage resultiert natürlich primär aus den roten Zahlen im eigenen Depotauszug. Sie wird aber von einem bestimmten Typus negativer Schlagzeilen in den traditionellen Medien und im Internet noch verstärkt. Mit diesem speziellen Schlagzeilentypus befassen wir uns im vorliegenden Blog-Beitrag. Und weil Renditen in den beiden besonders populären Aktiensegmenten US-Aktien und Technologie-Aktien-Global während der ersten zwei Monate 2022 ordentlich durchgerüttelt wurden, beginnt dieser Schlagzeilentypus nun wieder häufiger in den Medien aufzupoppen.

Gemeint sind Formulierungen und Aussagen wie die folgenden:

"Ausverkauf an der Wall Street nimmt Fahrt auf"

"Die Verkaufspanik an den Weltbörsen greift um sich"

"Flucht aus Gold"

"Konjunktursorgen lösen Ausverkauf bei Frankfurter Büroimmobilien aus"

"Anleger fliehen aus dem Rubel"

"Anleger werfen SAP-Aktie aus ihren Depots"

"Nach fünf Monaten Rohstoffparty stürzen alle in Richtung Notausgang"

"Investoren ziehen sich aus Schwellenländern zurück"

"Dax schließt mehr als 350 Punkte im Minus – Anleger weichen auf Gold und Anleihen aus"

"Stampede raus aus Aktien und rein in Anleihen"

"Anleger setzen auf Sichere-Hafen-Investments"

"Anleger suchen Zuflucht in Defensivwerten"

"Flucht in Qualitätsanleihen"

Wenn wir in einer beginnenden oder schon länger andauernden Marktkrise solchen Überschriften in den Medien oder im Internet ausgesetzt sind und wir mit unseren eigenen Investments zumindest ein bisschen davon betroffen sind, dann können derartige Statements einen regelrechten Angsttsunami in uns auslösen. Vielleicht werden wir unser Investment deswegen sogar verkaufen oder reduzieren.

Das Problem der oben aufgelisteten Artikelüberschriften und Aussagen besteht nun darin, dass sie ausnahmslos und komplett falsch sind. Jede einzelne dieser Aussagen stellt eine sachlogische Unmöglichkeit dar. 

Bevor wir erläutern, warum sie komplett falsch sind, bitten wir Sie, die Schlagzeilen noch einmal zu überfliegen und sich zu überlegen, was der gemeinsame Fehler in allen Aussagen sein könnte.

Die Antwort auf unsere Quizfrage lässt sich gut an einem Beispiel veranschaulichen. Wir nehmen dazu exemplarisch die dritte Schlagzeile zu Gold. Für jeden Verkäufer, der aus Gold "flüchtet", muss es einen Käufer geben, der in Gold "flüchtet". Jeder Verkauf ist zugleich ein Kauf. Weil das so ist, ist die Schlagzeile falsch und irreführend. Eine allgemeine "Flucht aus Gold" ist unmöglich. Jedes Wertpapier, jeder Vermögenswert, jedes Asset muss zu jedem Zeitpunkt von jemandem gehalten werden. Das nennt man in der wissenschaftlichen Finanzökonomie "Equilibrium Accounting" (Gleichgewichtsbuchhaltung).

Equilibrium Accounting ist ein ebenso simples wie mächtiges Konzept in der finanzökonomischen Sachlogik, mit dessen Hilfe man viele investmentpornographische Aussagen in den Finanzmedien als den sensationalistischen, falschen und bei Befolgung schädlichen Nonsens entlarven kann, der sie viel zu oft sind.

Equilibrium Accounting impliziert zwei einfache, aber fundamentale Feststellungen: 

(1) Käufe und Verkäufe in den Kapitalmärkten halten sich in jedem relevanten Zeitraum genau die Waage und (2) jedes Wertpapier muss zu jedem Zeitpunkt einen Besitzer haben.

Die beiden simplen und trotzdem oft übersehenen Sachverhalte haben eminent praxisrelevante Implikationen: 

Selbst, wenn die Börse im Mega-Crash nach unten taumelt, sind genauso viele Käufer wie Verkäufer da. Ein "Rückzug der Anleger" (das heißt des Marktes) aus einem Wertpapier oder einer Asset-Klasse, eine "Flucht" oder "Umschichtung von niedriger Qualität in hohe Qualität" oder ein "Ausverkauf" – all das kann es weder auf der Ebene des Marktes (auf der Ebene einer Asset-Klasse), noch auf der Ebene eines einzelnen Wertpapiers geben. 

Eine Medienschlagzeile à la "Stampede raus aus Aktien und rein in Anleihen" ist deswegen sowohl in Bezug auf Aktien als auch in Bezug auf Anleihen ganz einfach Quatsch. Auf jeden aus Aktien heraus stürmenden Anleger kommt ein in Aktien hinein stürmender Anleger und bei Anleihen ist es genauso. 

Ein anderes Beispiel aus dem Handelsblatt vom 24.01.2022. Dort heißt es "Risk off – also raus aus dem Risiko – lautete das Motto der Anleger in der vergangenen Woche. Sie trennten sich verstärkt von Aktien und den besonders im Wert schwankenden Kryptowährungen." Sorry, lieber Handelsblatt-Journalist, Du schreibst Mumpitz – sehr wahrscheinlich, um Klickraten zu generieren. Anleger trennten sich vergangene Woche nicht verstärkt von Aktien oder Kryptowährungen.

Noch einmal: Jedes Wertpapier muss jederzeit einen Eigentümer haben. Ein einzelner Anleger kann "flüchten", also verkaufen, aber nicht "die Anleger" oder "der Markt", obwohl genau das in den betreffenden Meldungen ausgedrückt wird.

Journalisten und Blogger verbreiten bei stark negativen Kursbewegungen das Bild eines brennenden Kinosaals: Jemand hat "Feuer" gerufen und nun wollen alle in Panik raus. In Bezug auf Wertpapiermärkte ist dieses Bild jedoch selbst bei starken Abwärtsbewegungen schief und irreführend. Irreführend, weil genauso viele Marktteilnehmer in den brennenden Kinosaal hinein wie hinaus wollen.

Was den Einfluss von "Verkaufsdruck", von "Ausverkauf" oder, andersherum, von "Übernachfrage" auf den Preis eines Wertpapiers oder einer Asset-Klasse angeht: Kein individuelles Wertpapier und keine Asset-Klasse erlebt einen "Kurs-Crash" oder eine "Preisexplosion" wegen zu viel Angebot oder zu viel Nachfrage – ganz einfach deshalb nicht, weil zu viel Angebot oder Nachfrage in einem freien Markt gar nicht existieren können. In einem solchen Markt sind Angebot und Nachfrage immer genau gleich hoch. Dafür sorgt der Preismechanismus.

Equilibrium Accounting als sachlogisches Konzept dürfte in der Anlegerpraxis vor allem bei starken Kursrückgängen hilfreich sein, es trifft jedoch gleichermaßen bei heftigen Kursanstiegen zu. Dann heißt es in den Medien beispielsweise "Ansturm auf Apple-Aktien". Solche falschen Formulierungen lösen bei manchem Privatanleger einen FOMO-Kauf aus (Fear of Missing Out), ein vorwiegend Gier-getriebenes Investment, das statistisch in über 50% der Fälle schadet.

Für Kursänderungen, auch große Kursänderungen, bei einem einzelnen Wertpapier oder einer Asset-Klasse braucht es übrigens nur einen einzigen Kauf oder Verkauf und beides ist ohnehin dasselbe. Zwischen einer unüblich hohen Anzahl von Käufen/Verkäufen und starken Preisbewegungen existiert kein zwingender Zusammenhang. Bei sehr illiquiden Wertpapieren stecken tatsächlich oft nur einzelne Käufe/Verkäufe hinter einer starken Preisbewegung.

Die tatsächlich vorkommenden "Preisexplosionen" oder Preis-Crashes in einem Markt geschehen nicht, weil plötzlich alle kaufen oder alle verkaufen (das ist technisch unmöglich), sondern ganz banal, weil der Markt, also die Aktienanleger als Kollektiv, seine Einschätzung der Zukunftsaussichten des Papiers oder einer Asset-Klasse deutlich ändert. Das wäre natürlich eine eher unspektakuläre Artikelüberschrift und deswegen werden wir sie nirgendwo lesen. So viel ehrlichen Realismus und so viel Faktentreue kann man von einem normalen Finanzmedium oder Finanz-Blog nicht erwarten.

Im Jahr 1985 hatte der Dax eine fantastische Jahresrendite von 84%. Geschah das, weil alle euphorisch kauften? Nonsens. Selbst in diesem "Jahr der Aktieneuphorie" (Medienschlagzeile) gab es genauso viele Verkäufer wie Käufer, also Anleger, die sich "uneuphorisch" verhielten und veräußerten. 

Nun könnte jemand gegen die hier von uns getroffenen Aussagen einwenden, dass die Zahl der Käufer und Verkäufer nicht immer exakt identisch sein müsse, sofern sich wenige "große" Verkäufer und viele "kleine" Käufer gegenüberstünden oder umgekehrt. Das mag stimmen, kommt aber an Börsen – erstens – nicht dauerhaft vor und ändert – zweitens – nichts an der grundsätzlichen Richtigkeit der Aussage, um die es hier geht: Jedem Käufer eines Wertpapiers muss immer ein Verkäufer dieses Wertpapiers gegenüberstehen.

Auch die Existenz von Aktienemissionen und Aktienrückkäufen relativiert das im Equilibrium Accounting enthaltene Prinzip nicht. Zum einen sind diese Vorgänge nur ein mikroskopischer Bruchteil der jährlichen Trading-Aktivität am globalen Aktienmarkt. Zum anderen handelt es sich bei Emissionen und Rückkäufen letztlich ebenfalls um Kauf-Verkaufstransaktionen, also selbst bei Wertpapieremissionen und Aktienrückkäufen steht jedem Käufer ein Verkäufer gegenüber.

Warum ist das Wissen um Equilibrium Accounting so nützlich? 

Es leuchtet unmittelbar ein, dass es für einen Privatanleger einen beträchtlichen Unterschied macht, ob er irrtümlich glaubt, eine drastische Kursbewegung nach unten sei primär dadurch verursacht, dass jetzt "alle" oder jedenfalls "sehr viele" das Wertpapier oder die Asset-Klasse abstoßen, oder ob er richtig glaubt, dass es nach wie vor genauso viele Käufer gibt, die in das Wertpapier oder die Asset-Klasse einsteigen und der Markt lediglich seine kollektive Einschätzung des Preises an neue Informationen anpasste.

Wenn Sie das nächste Mal von "Panikverkäufen an der Istanbuler Börse" hören, wissen Sie nun, dass im gleichen Moment die exakt gleiche Zahl von "Panikkäufen" stattfand. Aber weil die Kurse gefallen sind, nennen es Journalisten oder Blogger "Panikverkauf" statt "Kaufeuphorie".

Ökonomische Logik und Finanzjournalismus – häufig nicht die besten Freunde.

– Fazit – 

Wer regelmäßig im sensationalistischen Dschungel der Finanzmedien und des Internets unterwegs ist, der wird unweigerlich mit hyperventilierenden Nachrichten und Aussagen über starke Kursveränderungen eines Assets oder eine Asset-Klasse konfrontiert – sei das nun die SAP-Aktie, der chinesische Aktienmarkt, französische Staatsanleihen, spanische Immobilien, der US-Dollar, Bitcoin oder schottischer Whisky. Denken Sie in einem solchen Moment an Equilibrium Accounting. Machen Sie sich klar, dass das betreffende Asset oder die Asset-Klasse immer zugleich von jemandem gekauft und von jemandem verkauft werden muss, egal, ob der Preis soeben stark nach oben oder nach unten ging. Wenn Sie sich dieses unscheinbare, von Journalisten aus Unwissen oder Sensationsmache und von Vertretern der Finanzbranche aus Marketinggründen unterschlagene Faktum dann vergegenwärtigen, werden Sie erkennen, wie viele öffentliche Schlagzeilen unlogisch, übertrieben oder falsch sind. Das wird Ihnen helfen, schädliche Kauf- oder Verkaufsentscheidung zu vermeiden. Zu mehr Gelassenheit und Seelenfrieden trägt das Wissen um Equilibrium Accounting sowieso bei.

 


Über den Autor

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Gerd Kommer Invest GmbH
Dr. Gerd Kommer ist Geschäftsführer der Gerd Kommer Invest GmbH, München. Das Unternehmen berät vermögende Privatkunden, Family Offices und Stiftungen in ihren Finanzangelegenheiten. Bis Ende 2016 war Kommer 24 Jahre bei europäischen Großbanken und Asset Managern tätig; zuletzt als Leiter der Niederlassung London und Global Head of Infrastructure & Asset Finance der FMS Wertmanagement, ein Asset Manager, der dem deutschen Staat gehört. In dieser Position verantwortete er ein Portfolio aus strukturierten Krediten und Anleihen im Volumen von 16 Mrd. Euro. Kommer hat mehrere Bücher zu Investmentthemen veröffentlicht. Er studierte BWL, Steuerrecht und Politikwissenschaft in Deutschland, USA und Liechtenstein.
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