Klar hat keiner mehr Zeit, aber die Zeit für DIE ZEIT, sollte man / frau sich nehmen. In dem Artikel kommt das "mentale" Umfeld unseres Börsenhandelns gut rüber. In einem Moment, klare Erkenntnis und Mahnung, im nächsten Moment, Augen verschließen und durch. Aber die "Systematik des Unberechenbaren", nicht zuletzt von uns Handelnden, sollte man irgendwie erahnen können. :-)
Lehmans Lehren
Keine weitere Großbank brach mehr unerwartet zusammen, und die Kurse stehen heute höher als damals
Die Zeit
Datum: 12.09.2013
Als das Bankenchaos ausbrach, schien die Welt unterzugehen. Sind wir heute schlauer, oder passiert uns das wieder? Vor fünf Jahren geschah etwas Erstaunliches: Die Welt ging nicht unter. Der Tod der Wall Street, das Ende des Kapitalismus - daran glaubten fast alle, als die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 pleiteging. Die Banken würden einander nun wie Dominosteine in rasender Folge zu Fall bringen. Es kam anders. Glücklich jene Anleger, die damals Nerven, Aktien und Anleihen behielten. Keine weitere Großbank brach mehr unerwartet zusammen, und die Kurse stehen heute höher als damals. Gemessen an den Erwartungen, ist ein Wunder geschehen - möglich gemacht durch Rettungs- und Konjunkturpakete, Einlagen- und Schuldengarantien. Die Regierungen und Notenbanken haben alle Register gezogen. In Wahrheit ist aber weder die Krise zu Ende, noch ist alles gut. Zwar haben wir die Krise satt, Politiker, Leser und Zuschauer, sogar die Journalisten. Und die Banker tun obendrein alles, damit wir sie vergessen. Aber genau das ist das Problem. Anders als 1929, als die Weltwirtschaft in die Depression krachte, haben die Industrieländer sich diesmal Zeit gekauft und sich vorgenommen: Erst retten wir Sparer, Banken, ganze Länder, dann räumen wir auf. Wir bauen Schulden ab, stärken unsere Volkswirtschaften und ordnen die Finanzwirtschaft neu. // Mit einem Nebensatz kann Draghi die Finanzmärkte auf Talfahrt schicken // Doch das große Aufräumen ist schwer. Die Griechen brauchen wieder Hilfe, möchten sich aber nicht gängeln lassen. Und in Portugal schwindet die Mehrheit fürs Sparprogramm. Während also die Nehmerländer genug haben vom harten, fremdbestimmten Leben, wollen die Geberländer nicht noch mehr Geld riskieren. Zwei Drittel der Deutschen befürchten, mit ihren Steuern die europäische Rechnung zahlen zu müssen. Die Idee der Rettung ist aber, dass keine Nation durchdreht oder sich verweigert. Wir erleben einen historischen Test: Halten die Demokratien so lange durch, dass auch der Euro hält? Und mehr noch: Können sie sich gleichzeitig gegen die Finanzwirtschaft behaupten, diese sanieren und regulieren? Noch verbergen sich in den Bilanzen der europäischen Banken faule Kredite in zwei- oder dreistelliger Milliardenhöhe, und das nicht nur in Spanien, wo besonders viele Hypotheken platzen. In Deutschland sitzen Institute wie die Commerzbank oder die HSH Nordbank auf unsicheren Schifffahrtskrediten, und in Bad Banks lagern toxische Papiere. Offiziell will Europa ehrlich werden, aber inoffiziell wollen viele Länder weiter mogeln. Nur kann die Wirtschaft eben nicht gesunden, solange die Banken krank sind. Stabil wird sie zudem nur sein, wenn wir neben den Banken auch die Fonds, die ihnen einen Teil ihres spekulativen Geschäfts abnehmen, streng regulieren. Doch die wetten von London oder den Cayman Islands aus gegen Länder, übernehmen Großfirmen - und können die Weltwirtschaft erbeben lassen, ohne dass jemand sie aufhält. Wie schon so oft konnten sich die 20 großen Wirtschaftsnationen auch jetzt in St. Petersburg nicht auf neue Regeln einigen. AI das soll keine schlechte Laune machen, es gehört bloß zur Krisenwahrheit dazu - genauso wie die größte Herausforderung von allen: die Macht der Zentralbanken. Denn nicht Angela Merkel sitzt auf unerschöpflichen Geldreserven in Europa, sondern Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank. Deshalb hat er der Kanzlerin den Rang als oberster Retter abgelaufen; mit einem Federstrich, mit einem Nebensatz kann er die Finanzmärkte auf Berg- oder auf Talfahrt schicken. Für die Demokratie ist es ein Problem, wenn ein Wahlbeamter mehr Einfluss hat als die Regierungen. Und auf Dauer ist es auch nicht gut für die Wirtschaft. Denn das Krisengeschehen kann man so beschreiben: Ein Kokainabhängiger erleidet einen Zusammenbruch - und wird nun mit noch mehr Kokain behandelt. Der Abhängige ist die Weltwirtschaft, die Droge das Geld.Wie viel davon? Vor der Krise hatten die Zentralbanken weltweit 10 Billionen Dollar im Umlauf, jetzt sind es rund 20 Billionen. Sie haben gegen alle früheren Schwüre die Anleihen ihrer Staaten gekauft, Banken ausgeholfen und die Zinsen so weit gedrückt, dass die Vermögen normaler Sparer schrumpfen. Einmalige Sünden, könnte man sagen, um die Welt zu retten. Doch so ist es nicht. Diese Krise wäre so nie geschehen, hätte nicht die amerikanische Notenbank schon zuvor eine Geldflut ausgelöst. Das half zwar der Konjunktur, aber das Casino an der Wall Street lief heiß - mit dem bekannten Ergebnis. Heute wollen es Draghi und Kollegen besser machen. Doch können sie das? Schon platzen neue Kreditblasen in Schwellenländern wie Indien und Indonesien. Ohne baldige Umkehr werden die Übertreibungen auch in den Westen zurückkehren. Das Ergebnis wäre eine Wirtschaft auf Achterbahnfahrt, wie sie möglicherweise Finanzakrobaten an der Wall Street behagt, aber sicher nicht den stabilitätsliebenden Deutschen. Die Tricks von Zentralbanken können eine solide Wirtschaftspolitik eben nicht ersetzen. Aus all diesen Gründen brauchen wir einen Konsens darüber, dass die Demokratien dem Finanzkapitalismus Grenzen ziehen, nicht umgekehrt. Denn auf Dauer muss der Wohlstand verdient, er kann nicht herbeigezaubert werden. Das ist die Lehre der Jahre seit dem jähen Ende von Lehman Brothers. Zwar haben die Staaten seither viel erreicht, aber wenn ihnen jetzt der Atem ausgeht, war alles vergeblich.