Eigentlich galt Jens Weidmann für die Nachfolge von EZB-Präsident Mario Draghi als abgeschrieben. Nicht nur, dass sich die EU-Südländer für den Kritiker expansiver Geldpolitik nicht begeistern konnten, auch die Pläne der Bundesregierung in Berlin liefen in eine andere Richtung. Kanzlerin Angela Merkel war es wichtiger, einen Deutschen auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten zu hieven, anstatt einen Kandidaten für die EZB-Spitze ins Spiel zu bringen. Mit Manfred Weber (CSU) hatte sie dafür einen respektablen Kandidaten auserkoren, dessen Partei der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört, die als größte Gruppierung in Brüssel üblicherweise den Kommissionspräsidenten ernennt. Doch dabei hat Merkel offenbar nicht mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gerechnet, der mit einer Ernennung des Franzosen Michel Barnier liebäugelt.
Auch Weidmann kann nicht zaubern
Wenn aber Frankreich den Nachfolger von Jean-Claude Juncker stellen sollte, sofern das Parlament ihn wählt, würden die Chancen von Weidmann, Draghi beerben zu können, deutlich steigen. Sicher ist, dass die Bestellung des jetzigen Bundesbank-Chefs für die Spitze der EZB ein deutliches geldpolitisches Signal für den Kapitalmarkt wäre. Die damit verbundenen Hoffnungen auf ein zügiges Ansteigen der Zinsen aber sollten nicht allzu hoch gehängt werden – weder von Sparern noch von der Finanzindustrie. Denn auch Weidmann könnte als EZB-Präsident nicht zaubern und die expansive Geldpolitik, die Draghi initiiert hat, von heute auf morgen zurückdrehen.
Doppelpass mit dem französischen Kollegen de Galhau
Dass Weidmann aber eine Vision hat, machte er jüngst zusammen mit seinem Pariser Kollegen François Villeroy de Galhau mit einem Gastbeitrag in der „FAZ“ deutlich. So gilt es nach deren Auffassung, die europäische Wirtschafts- und Währungsunion durch die Vollendung einer echten Kapitalmarktunion zu stärken. Damit wären vor allem zwei Dinge erreichbar: Erstens könnten integrierte Kapitalmärkte wirtschaftliche Schocks abfedern, die nur einen Teil eines Währungsraums treffen. Und zweitens würde eine echte Kapitalmarktunion dazu beitragen, die beträchtlichen Ersparnisse im Euroraum besser konkreten Investitionszwecken zuführen zu können wie der Energiewende, digitalen Innovationen oder der Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen.
Vision für Europa
Weidmann und de Galhau machen klar, dass durch ein Zusammenwachsen der Kapitalmärkte die Vorteile des gemeinsamen Marktes besser ausgeschöpft und eine doppelte Dividende aus stärkerem Wachstum und höherer Widerstandsfähigkeit der Kapitalmärkte erzielt werden könnten. Damit wird deutlich, dass eine echte Kapitalmarktunion Teil einer gesellschaftspolitischen Vision für Europa sein kann. Und wenn sich über dieses Ziel heute schon die Notenbankchefs in Berlin und Paris einig sind, könnte mit einem Jens Weidmann an der EZB-Spitze die Entwicklung einer echten Kapitalmarktunion an Fahrt aufnehmen.
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