Keine Frage, die Europäische Union (EU) hat im Zuge der Brexit-Verhandlungen und den Versuchen von Theresa May, ihren Deal nachzuverhandeln, Standhaftigkeit und Prinzipientreue bewiesen. So ist die britische Premierministerin bei ihren mehrfachen Besuchen in Brüssel, bei denen sie neue Zugeständnisse erhalten wollte, immer wieder abgeblitzt. Die Frage ist aber nun, was passiert, wenn das parlamentarische Chaos in Westminster auch bis zum 31. Oktober anhält – also jenem Tag, an dem die erneut verlängerte Frist, die Brüssel den Briten gewährt hat, endet.
Die EU sei bei der Fristverlängerung zu einem Opfer ihrer eigenen Selbstgewissheit geworden, schreibt dazu die „Zeit“. Zu sehr habe man darauf vertraut, dass die Briten doch noch zu der Einsicht kommen würden, die EU sei die beste aller Lösungen. Es ist zu hoffen, dass dies noch geschieht. Dennoch muss man mit Querschüssen der Brexiteers vom Schlage eines Boris Johnson immer rechnen. So setzt man in Großbritannien große Hoffnung in eine politische Annäherung der unterschiedlichen Interessensgruppen und hofft auf die Rückkehr der Vernunft. Doch noch ist kein „weißer Rauch“ aufgestiegen.
Labour-Politiker drängen auf zweites Referendum
So gelten auch die Gespräche zwischen May und Labour-Chef Jeremy Corbyn als festgefahren. Bekanntlich will May ja versuchen, mit Labour eine Einigung für den Austritt Großbritanniens aus der EU zu erreichen. Aber von Corbyns Forderung nach einer Zollunion mit der EU will sie nichts wissen. Dabei drängen führende Labour-Politiker darauf, das Volk ein zweites Mal zu befragen – ein Vorhaben, das bei Hardlinern unter den Tories wiederum als „Hochverrat“ tituliert wird. Annäherung sieht definitiv anders aus.
Fratzscher bemängelt Verschiebung des Austrittstermins
Ein Grund zum Durchatmen ist der erneute Aufschub des Brexits jedenfalls nicht – erst recht nicht für die Wirtschaft. Denn bereits die Verschiebung des Brexits bewirkt nach den Worten des Chefs des Berliner Forschungsinstituts DIW, Marcel Fratzscher, einen Schaden für Konjunktur und Unternehmen. Seines Erachtens ist die Unsicherheit „Gift für die Wirtschaft“ und damit ist die offene Brexit-Frage zur Hängepartie geworden. Dennoch wird die deutsche Wirtschaft laut Fratzscher einen chaotischen EU-Austritt der Briten „relativ gut wegstecken“. Neben dem Brexit wird Europa aber auch von vielen anderen offenen Entscheidungen wie der Besetzung der Spitzenpositionen bei der EU-Kommission und der EZB gelähmt.
Stimmungsbild Europawahl
Hatte man zuletzt den Eindruck, dass die EU nur noch mit dem Brexit beschäftigt ist und alle anderen strategischen Herausforderungen vernachlässigt, so wird sich am Ergebnis der Europawahlen ablesen lassen, wie das die Bevölkerung empfindet. Vielleicht kommt es aber sogar zu einer pro-europäischen Dynamik. Es bleibt also spannend.
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