BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) - Die EU kündigt einen "Aktionsplan" für die Arktis an und will darin die Förderung von Rohstoffen sowie die "grundsätzliche Frage der Führungsansprüche" im Nordmeer klären. Hintergrund ist die Konkurrenz zwischen den Großmächten im Polargebiet, die zunimmt, weil die Eismassen wegen der Erderwärmung tauen und den Zugriff auf umfangreiche Ressourcen freigeben. Neben Russland und den Vereinigten Staaten verlangen auch Berlin und Brüssel Anteil am dortigen Öl und Gas. Der Kampf um Einfluss im Polargebiet wird von massiven Aufrüstungsmaßnahmen begleitet. Gleichzeitig beginnt die deutsche Transportwirtschaft mit der geostrategisch folgenreichen Erschließung neuer Handelsrouten im Polarmeer. Dabei handelt es sich um Schiffswege, die sich in den kommenden Jahren mit dem Abschmelzen der Polarkappen öffnen und die Transportstrecken nach Ostasien in erheblichem Maße verkürzen. Weil der deutsche Ostasien-Handel - durch die Finanzkrise noch verstärkt - immer mehr an Gewicht gewinnt, kommt den neuen Routen langfristig hohe Bedeutung zu. Sie führen an der russischen Nordküste entlang, werden bereits in Kooperation mit Russland erschlossen - und verdichten damit die strategischen Bindungen zwischen Berlin und Moskau.
Schwenk
Die weltweite Finanzkrise wird Experten zufolge zu einer Verlagerung der deutschen Handelsströme führen. Deutsche Unternehmer setzen wegen des Zusammenbruchs in den USA stärker auf die ohnehin schon boomenden Geschäfte mit der Volksrepublik China, die von der Krise nicht so stark betroffen ist. Man rechne mit einem "Schwenk" der deutschen Exporte nach Osteuropa und vor allem
Asien, heißt es beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).[1] Damit steigt die Bedeutung der Handelsrouten in diese Regionen, bei deren Erschließung die deutsche Wirtschaft sich in enger Zusammenarbeit mit Russland stark engagiert. Auf dem Landweg ist die Deutsche Bahn bereits seit einiger Zeit um die Kontrolle einer Logistik-Brücke nach China bemüht - gemeinsam mit der russischen Staatsbahn RZD.[2] Weil sich wissenschaftliche Beweise für das Abschmelzen der Polkappen durch die globale Erwärmung erhärten, wächst jetzt auch das Interesse an neuen Seehandelsstrecken durch die Arktis. Vorangetrieben wird die Erschließung dieser Seewege ebenfalls in deutsch-russischer Kooperation.
Abkürzungen
Die globale Klimaerwärmung führt im hohen Norden zu einem überproportionalen Temperaturanstieg. Forscher vermuten, in spätestens 30 Jahren könne das Eis am Nordpol im Sommer völlig verschwunden sein. Bereits jetzt nehmen die Schiffsbewegungen im Polarmeer erheblich zu. Im September waren erstmals seit Beginn der letzten Eiszeit vor 125.000 Jahren die zwei Haupt-Schiffsrouten durch das Polarmeer - die Nordost- und die Nordwestpassage - gleichzeitig eisfrei und befahrbar. Die Öffnung der arktischen Seewege nützt der Wirtschaft: Die heute meist befahrene Route zwischen Europa und Asien (Rotterdam-Tokio), die durch das Mittelmeer und den Suezkanal führt, ist 21.100 Kilometer lang; durch die Nordwestpassage im Norden von Kanada verkürzt sie sich bis auf 15.900 Kilometer, durch die Nordostpassage entlang der russischen Nordküste sogar auf 14.100 Kilometer. Die Nordwestpassage soll allerdings erst in etwa 40 Jahren - und dann nur in den Sommermonaten - für längere Zeit eisfrei sein. Dieser Seeweg ist aber für die deutsche und europäische Wirtschaft ohnehin nur weniger interessant.
NordostpassageDas Begehren der europäischen Reeder, den Seeweg von Europa nach Ostasien zu verkürzen, richtet sich in erster Linie auf die Nordostpassage, die über 6.500 Kilometer entlang der Nordküsten Europas und Asiens vom Weißen Meer bis zur Beringstraße führt. Die Nutzung dieser Route verkürzt den Seeweg nach China und Japan um etwa 40 Prozent und ermöglicht es, erheblich Kraftstoff und Zeit einzusparen: Die Fahrzeit von Hamburg nach Yokohama verkürzt sich von 28 auf 18 Tage. Es wird allerdings noch einige Zeit dauern, bis moderne Frachter ganzjährig die Nordostpassage nutzen können. Schon heute ist die Route für gewöhnliche Handelsschiffe mit eisverstärktem Rumpf in den Monaten von Juli bis Dezember befahrbar. Zwischen Januar und Mai sind die Frachter jedoch noch auf russische Eisbrecher angewiesen. Trotz der Erderwärmung werde die arktische Schifffahrt auch in den kommenden Jahren noch mit Behinderungen durch Eis rechnen müssen, sagt der Hamburger Polar-Experte Joachim Schwarz. Schwarz gehört einer deutsch-russischen Sachverständigenkommission zur Erschließung der Nordostpassage an.[3]
Eisvorhersage
Um die Nordostpassage dauerhaft als Schifffahrtsroute nutzen zu können, wird ein zuverlässiges "Eisvorhersagesystem" benötigt. Das mehrjährige Eis schmilzt immer weiter ab; es verbleibt einjähriges Eis, das dünn ist, leicht in Schollen zerbricht und dazwischen offene Fahrrinnen freigibt. Diese können sich allerdings schon nach wenigen Stunden wieder schließen - ein Vorgang, der die Schifffahrt zu einem riskanten Unternehmen macht. Um ihre Routen planen zu können, brauchen Schiffskapitäne eine zuverlässige Eisvorhersage. Diese wird in Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau entwickelt. Eine Gruppe deutscher und russischer Wissenschaftler hat ein Routenoptimierungssystem erarbeitet, das verlässliche Prognosen über die Öffnung von Fahrrinnen im Eis liefern soll. Die zu ihrer Berechnung benötigten Daten (Dicke und Beschaffenheit des Eises, Driftgeschwindigkeit etc.) wird der europäische Satellit "Cryosat 2" liefern, den die europäische Raumfahrtagentur Esa im nächsten Jahr ins All befördern will – mit einer russischen Trägerrakete, die in Baikonur (Kasachstan) starten wird. Die Förderanträge zur Einrichtung des Systems sind bereits bei russischen und deutschen Ministerien eingereicht.[4]
Aktionsplan
Während die Erschließung der Nordostpassage in enger deutsch-russischer Kooperation erfolgt, birgt die künftige Nutzung der arktischen Ressourcen erhebliches Konfliktpotential. Unter dem Grund des Polarmeers vermutet das Geologische Vermessungsinstitut der USA unter anderem 13 Prozent der weltweiten Ölvorkommen und 30 Prozent der Erdgasreserven. Weil die Polkappen abschmelzen, wird der Abbau künftig gewinnbringend möglich sein. Die Bundesregierung, die schon mehrfach ihren Anspruch auf Teilhabe an den Rohstoffen der Arktis unterstrichen hat, versucht über die Europäische Union Einfluss im Polarmeer zu gewinnen.[5] Auf einer Konferenz in Grönland hat Brüssel Anfang September seine Ansprüche offen angemeldet: "Die EU will an der Debatte beteiligt sein", erklärte ein Vertreter der französischen Ratspräsidentschaft.[6] Wenig später kündigte EU-Energie-Kommissar Andris Piebalgs an, in der Arktis nach Öl und Gas bohren zu lassen.[7] Die EU-Kommission arbeitet an einem Aktionsplan, der die "Förderung der nachhaltigen Nutzung von Bodenschätzen" und die "grundsätzliche Frage der Führungsansprüche" in der Region behandeln soll. Unter den Mitgliedsstaaten werden diese Fragen auf einer EU-Arktis-Konferenz am 9. November in Monaco besprochen. Danach wird eine Kommissionmitteilung zur arktischen Region veröffentlicht.[8]
Aufrüstung
Beim Griff nach den Rohstoffen im hohen Norden kommen Berlin und die EU um eine Auseinandersetzung mit Moskau nicht umhin - rund die Hälfte der Arktis gehört zu Russland. Zudem müssen sie damit rechnen, in militärische Konflikte involviert zu werden, auf die sich die Washington und Moskau schon vorbereiten. Die US-Regierung hat kürzlich beschlossen, einen alten Eisbrecher wieder in Betrieb zu nehmen und neue Eisbrecher zu bauen, um sich im Kampf um die Polarressourcen durchsetzen zu können. "Die strategischen US-Interessen in der Arktis weiten sich aus", hieß es zur Begründung.[9] Der Kreml beschloss daraufhin, die russische Atomeisbrecherflotte neu aufzustellen, um sein "Recht auf bestimmte Gebiete" zu markieren. Auch die Tauchfahrten von U-Booten unter dem arktischen Packeis wurden wieder aufgenommen. Die Fähigkeit zu solchen Tauchfahrten sei im Kriegsfall von höchster Bedeutung, hieß es: U-Boote sind unter dem Packeis für feindliche Flugzeuge und für Weltraumsatelliten unsichtbar, können aber jederzeit die Eisdecke durchstoßen und Interkontinentalraketen abfeuern.[10]
2020
Die Arktis rückt damit immer stärker ins Zentrum geopolitischer Auseinandersetzungen und könnte schon bald zum Schauplatz neuer Rohstoffkriege werden. Autoren aus Bundeswehr und Wirtschaft hatten kürzlich in einem Handlungskatalog für das Bundeskanzleramt über eine "drohende bewaffnete Auseinandersetzung" mit Russland und China spekuliert; als Ursache
galten zukünftige Energieengpässe.[11] Für die Arktis schließen Experten nicht mehr aus, dass es bereits 2020 zu einem militärischen Konflikt kommen kann: Ursache sei die Konkurrenz um die Rohstoffe im Polargebiet, "wo die Grenzen noch nicht gezogen sind".[12]
[1] s. dazu Crash and Carry
[2] s. dazu Zum zweiten Mal und Nach Ostasien
[3] Der Traum vom kurzen Seeweg nach Asien; www.welt.de 06.10.2008
[4] Klima-Satellit CryoSat-2: Der Vermesser der Eiswelt; www.br-online.de 09.09.2008.
Innovationen in der Seefahrt: Rushhour in der Arktis; Financial Times Deutschland 06.10.2008
[5] s. dazu Energie für Deutschland (II) , Eiskalter Krieg , Eiskalter Krieg (II) und Eiskalter Krieg (III)
[6] Konferenz in Grönland: Die Sorge um die Schätze der Arktis; www.faz.net 15.09.2008
[7] Brüssel will nach Öl in Arktis bohren; Die Presse 22.09.2008
[8] EU bereitet Aktionsplan für Arktis vor; www.euractiv.com 11.09.2008
[9] US-Eisbrecher steigt in Kampf um Arktis ein; RIA Novosti 25.09.2008
[10] Im Kampf um Arktis trumpft Russland mit Atomkraft auf; RIA Novosti 25.09.2008. Arktis-Tauchfahrten der russischen U-Boote garantieren Gegenschlag im Kriegsfall; RIA Novosti 30.09.2008
[11] s. dazu Bär und Drache
[12] US-Eisbrecher steigt in Kampf um Arktis ein; RIA Novosti 25.09.2008
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57366/print?PHPSE