hier ein heutiger Kommentar der SZ zu Wirecard, der auch die deutsche Aufsicht in Frage stellt:
Quelle: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/...-kontrollversagen-1.4943126
21. Juni 2020, 18:37 Uhr
Wirecard:Deutsche Hybris
Dr Markus BRAUN CEO Vorstandsvorsitzender Gestik faltet die Haende zum Gebet Einzelbild angesch
Wirecard-Chef Markus Braun trat oft erfolgsversessen auf. (Foto: FrankHoermann/imago images/Sven Simon)
1,9 Milliarden Euro abhandengekommen? Kann offenbar passieren. Wie schon bei VW haben bei Wirecard alle Kontrollen versagt - vom Aufsichtsrat über die Rechnungsprüfer bis hin zur Finanzaufsicht.
Kommentar von Nicolas Richter
Als sich Volkswagen gerade in den Abgasen seiner betrügerischen Dieseltechnologie verlor, im Jahr 2018, stieg ein Hoffnungsträger in den elitären Zirkel der Dax-Konzerne auf: die Wirecard AG, ein Digitalunternehmen für bargeldloses Bezahlen per Karte oder App. Damals konnte man gerade an den Alten im Dax verzweifeln: VW hatte sich an die Weltspitze schummeln wollen, die Deutsche Bank reihte eine Affäre an die nächste, Bayer hielt es für klug, das Imagegift Monsanto zu kaufen. Wirecard immerhin versprach statt Verbrennungsmotoren und Pestiziden sauberen Datenverkehr und die Aussicht, dass Deutschland auch mal digitale Innovation aufbieten könne. Weil das Anleger glaubten, verdrängte Wirecard die Commerzbank aus dem Dax. Es hätte der Aufbruch in eine neue Zeit sein können.
Doch nun hat sich auch Wirecard in einen Skandal verstrickt, der existenzbedrohend ist für das Unternehmen und rufschädigend für den gesamten Wirtschaftsstandort. Dem Konzern sind auf den Philippinen 1,9 Milliarden Euro abhandengekommen. Das Geld soll ein Anwalt verwaltet haben, der einst zur philippinischen Regierung gehörte, bevor er wegen Unregelmäßigkeiten gefeuert wurde. Wirecard will ihm anschließend einen Großteil des Firmenvermögens zu treuen Händen gegeben haben. Schon dieser kurze Abriss legt nahe, dass sich hier eine der größten Blamagen anbahnt, die sich ein Dax-Konzern je geleistet hat - oder einer der größten Schwindel.
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Pure Inkompetenz genügt jedenfalls nicht, um den schier unglaublichen Vorgang zu erklären. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob das verschwundene Geld je existierte. Hat Wirecard Umsätze, Gewinne und Guthaben erfunden, die es nie gab, um den Aktienkurs zu steigern? Das würde an den Skandal um den US-Konzern Enron erinnern, der sich schönrechnete, bis er kollabierte. Noch ist unklar, ob Wirecard dieses Schicksal droht, aber im Lichte der filmreifen Philippinen-Connection scheint inzwischen alles möglich zu sein.
Der Fall Wirecard offenbart Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen deutschen Wirtschaftsskandalen der alten und der neuen Zeit. Die Hybris jedenfalls ist geblieben. Wirecard-Chef Markus Braun trat oft so erfolgsversessen auf wie die Chefs von Daimler, Deutscher Bank und VW, als diese ihre Konzerne an die Weltspitze peitschen wollten. Mit diesem unbändigen Ehrgeiz haben sie alle ihren Firmen geschadet, weil die unternehmerischen oder technologischen Mittel, um im Kreis der globalen Marktführer mitzumischen, weit hinter den Ambitionen ihrer Chefs zurückblieben. Auch bei Wirecard war die provinzielle Struktur dem globalen Anspruch nie gewachsen.
Warum haben Behörden Reporter verfolgt und nicht den Vorstand im Blick gehabt?
Sichtbar sind aber auch die Unterschiede. Erstens: ein übermächtiger Konzernlenker. Wie bei Start-ups üblich, war bei Wirecard alles auf den Ideengeber und Chef Braun ausgerichtet. Der Aufsichtsrat wirkte blass, der Vorstand bestand aus Vertrauten Brauns, agierte mit einer fast Trump'schen "Wir gegen die"-Attitüde und behandelte Kritiker wie Feinde, besonders die Financial Times, die verdienstvoll vor jenen Missständen gewarnt hat, die dem deutschen Unternehmen nun zum Verhängnis werden könnten.
Zweitens war die Substanz von Wirecard, auch das nicht untypisch fürs Internetzeitalter, stets schwer einzuschätzen. Während man bei VW wenigstens Autos und Fabriken zählen konnte, waren Wirecards Geschäftsmodell und dessen Wert nie so richtig zu ergründen. Vielen Anlegern und Analysten schien es zu genügen, dass Braun von Innovation redete. Die Intransparenz und Lückenhaftigkeit der Buchführung und Dokumentation erinnerte derweil mehr an Hawala-Banking denn an die Solidität, die einem Dax-Konzern angemessen wäre. Viele Umsätze, die Wirecard mit dubiosen Drittfirmen im Ausland erzielt haben will, sind kaum nachvollziehbar. Im Grunde ähnelt der Konzern einem Offshore-Konstrukt, in dem selbst Experten den Überblick verlieren. Das ist zwar nicht ungewöhnlich für heutige Digitalfirmen, erhöht aber die Anfälligkeit für Tricksereien aller Art.
Der Niedergang Wirecards stellt nun wieder einmal die deutsche Selbstwahrnehmung infrage, eine Nation überdurchschnittlich seriöser Kaufleute zu sein. Wie schon bei Volkswagen wirft auch der Fall Wirecard grundsätzliche Fragen zur Kontrolle auf. Warum haben Aufsichtsrat, Compliance-Experten und Rechnungsprüfer nicht ihre Arbeit gemacht? Warum ließ die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht kritische FT-Reporter verfolgen, bevor sie den Vorstand von Wirecard in den Blick nahm? Offensichtlich ist noch immer niemand in der Lage, Dax-Konzerne zu retten vor ihrer zuweilen verheerenden Mischung aus Seilschaften, Selbstüberschätzung, Inkompetenz und der gelegentlichen Neigung zum Gesetzesbruch. Kleinaktionäre, die auch jetzt wieder zu den Verlierern gehören, sollten ihr Geld breit streuen. Der Dax steht nicht nur für Solidität, sondern auch für Firmen, die sich größer fühlen, als sie sind.