Das Jahr 2000 war ein schlimmes Börsenjahr. Es gab weder eine Frühjahres-, Sommer-, Herbst- oder Winterrallye. Als Nachruf auf das alte Jahr hier ein Beitrag zur Eröffnung des neuen Jahres und der wahrscheinlich vorletzten Periode folgendes, kleine, moderne Märchen:
Es war um die Jahrhundertwende, als immer mehr Menschen die Aktienkurse verfolgten. Und weil sie hörten, dass man mit Aktien praktisch im Schlaf viel Geld verdienen könne, kauften sie auch Aktien. Und immer mehr Menschen hörten dies, kauften sich Computer und Börsensoft-ware, lasen Börsenzeitschriften, schauten im Fernsehen Bösensendungen um bei ihrer Bank zu ordern. Und so stiegen die Aktien unaufhaltsam.
Und meinte jemand vorsichtig, dass diese oder jene Aktie überteuert sei, weil der Börsenwert des Unternehmens inzwischen beim zweihundertfachen, ja sogar beim tausendfachen des Ge-winns liege, so wurde ihm von Leuten, die sich Analysten nennen, umgehend bedeutet, dass er keine Ahnung habe. Schließlich handelt es sich um Zukunftsmärkte mit ungeahnten Möglichkei-ten. Und hier müsse man bei den Anlaufverlusten und beim Kurs/Gewinnverhältnis schon bitte ein bisschen weiter in die Zukunft blicken.
Als Schließlich jede Zeitung, auch die noch so kleinen Blätter auf dem Lande, immer häufiger von jungen Börsenmillionären in ihren prächtigen Villen berichteten, stürmten die kleinen Leute die Banken, und baten die Angestellten händeringend doch einen großen Teil ihrer Ersparnisse sofort in Aktien anzulegen, weil sie auch so reich werden wollten.
Erfahrene Banker, die in ihrem Leben mehrere Crashs erlebt hatten, rieben sich untereinander grinsend über der sogenannten Dienstmädchenhausse und der zu erwarteten guten Geschäfte die Hände, hüteten sich aber, dies öffentlich kundzutun. Verständlich!
Es geschah plötzlich über Nacht. Der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan erlitt wäh-rend einer wichtigen Rede einen Hustenanfall, weil er vorher unvorsichtigerweise drei Stück Diätzwieback gegessen hatte. Ein dabei ausgestoßenes Wortfragment wurde von niemanden verstanden, deshalb aber sehr negativ für den Markt betrachtet, worauf der Dow-Jones-Index, der die dreißig wichtigsten amerikanischen Industrieunternehmen umfasst, innerhalb von neun-zig Minuten 420 Punkte verlor.
Am folgenden Tag brachen zunächst die asiatischen, dann die europäischen Börsen im Schnitt um sechs Prozent ein. Das führte an der Wallstreet von einem weiteren Rückgang von acht Pro-zent, worauf die Asiaten mit einem Minus von neun bis zwölf Prozent konterten.
Das ließ den Dax in Frankfurt nicht ruhen, er stürzte um zehn Prozent. Und der populäre Nemax-Index, der die Kursentwicklung all der neuen und modernen Unternehmen widerspie-gelt, setzte mit seinem Verlust von zwölf Prozent noch eins drauf.
Der Dow Jones in New York ließ sich daraufhin nicht lumpen und gab weitere sechs Prozent nach, worauf Dax und Nemax am nächsten Morgen schon in der ersten halben Stunde sieben Prozent verloren. Und in den folgenden Wochen und Monaten fielen die Kurse mehr und mehr.
Nun meldeten sich die Analysten zurück, wiesen auf die vorher exorbitant gestiegenen Kurse hin und meinten, der Rückgang sei natürlich vorhersehbar gewesen, man müsse mit weiteren Ver-lusten in der nächsten Zeit rechnen. Die Kurs/Gewinn-Verhältnisse vieler Aktien seien geradezu abenteuerlich hoch gewesen. Das hätte man nun wirklich klarsehen können.
Die Hausfrauen und die jungen Zocker, die in ihrem Leben nie einen Börsencrash erlebt hatten, bekamen zittrige Hände und versuchten in immer größerem Ausmaß zu retten, was noch zu ret-ten war. Und die Kurse sanken und sanken, bis einige Aktien, vor allem jene, deren Besitz als besonders cool galt, bis zu neunzig Prozent ihres Höchstkurses verloren hatten. Da weinten viele kleine Anleger und schworen sich, nie wieder mit Aktien zu spekulieren.
Als die Kurse ganz unten waren, stiegen die Banken wieder ein, auch mit ihren Fonds. Und die Aktien begannen zu steigen und zu steigen.
Dann gaben die Analysten in großer Zahl Empfehlungen für Aktienkäufe und meinten, dass man so billig nie wiederkaufen könne.
Und die Kurse gingen höher und immer höher und die Analysten empfahlen, weiter einzustei-gen. Und alle, die sich geschworen hatten, nie wieder mit Aktien zu spekulieren, kauften wieder.
Und wenn sie nicht gestorben sind, werden sie es immer wieder kaufen und kaufen, bis die Ana-lysten und Banken (die meisten stecken ja unter einem Hut) den Markt so kaputtreden, dass sie wieder alles verloren haben.