Arznei-Test hat Folgen für Pharmaindustrie
Fall Tegenero» Nach der schweren Erkrankung von Probanden bei einem Medikamententest in Großbritannien wird erwogen, das Zulassungsverfahren für neue Wirkstoffe in Deutschland zu ändern. Das geschieht nicht zuletzt, weil ein deutsches Unternehmen in den Fall verwickelt ist.
„Künftig werden wir vorschreiben, dass neue Wirkstoffe nur noch nacheinander an Menschen getestet werden“, sagte der Präsident des zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts, Johannes Löwer, der „Berliner Zeitung“ vom Freitag. Bei dem Test in Großbritannien war den Probanten ein neuartiges Mittel der Würzburger Firma Tegenero gleichzeitig verabreicht worden. Sechs Männer brachen daraufhin zusammen; zwei von ihnen befinden sich noch immer auf der Intensivstation. Nach Angaben von Experten in britischen Medien sei es ungewöhnlich, dass alle Patienten gleichzeitig die Dosis verabreicht bekamen. Eine Bestätigung dafür gab es jedoch nicht.
Tests mit Menschen erfolgen in mehreren Phasen an Freiwilligen: In Phase eins werden die Nebeneffekte an gesunden Menschen studiert. In der zweiten wird das Medikaments an Erkrankten erprobt. In der dritten und letzten Phase werden die Tests schließlich mit vielen Menschen wiederholt. Erst danach erhält ein Medikament eine Lizenz. Freiwillige für diese Tests werden per Anzeige gesucht. Medikamententests können den Probanden einige Tausend Euro erbringen. In diesem speziellen Fall haben die Männer gut 2 000 Pfund erhalten.
Forschungschef Thomas Hanke von Tegenero entschuldigte sich bei den Angehörigen. Er sei „schockiert“ über den Verlauf des Tests. Im Laborversuch habe es keine Probleme gegeben. Das Medikament TGN 1412 sei an Hasen und Affen getestet worden. Dabei habe es keine Vorfälle gegeben, die auf das Medikament zurückzuführen seien, sagte Hanke am Donnerstagabend vor dem Krankenhaus im Nordwesten Londons. Gerüchteweise hieß es, dass bereits ein Hund bei der Verabreichung des Medikaments gestorben war. Nun drohen Forderungen in Millionenhöhe für die bayerische Firma. Die Angehörigen haben bereits Anwälte eingeschaltet.
Tegenero war nach eigenen Angaben im Jahr 2000 aus Venture-Capital-Mitteln von gut 14 Mill. Euro gegründet worden. Derzeit arbeiten dort 15 Angestellte. Das Unternehmen geht auf den Lehrstuhl für Immunbiologie der Universität Würzburg zurück. Dort hatten einige Forscher eine Reihe von monoklonalen Antikörpern entdeckt, die sich gegen Infektionserreger und Tumorzellen einsetzen ließen. Um aus ihrer Entdeckung Medikamente zu entwickeln, machten sie sich selbstständig. Nach Zeitungsberichten ist TGN 1412 der erste Wirkstoffkandidat überhaupt, den die Firma an Menschen testet. Das Unternehmen sei mit keinem anderem Produkt auf dem Markt.
Die sechs kollabierten Männer hatten zeitgleich ein neues Mittel von Tegenero namens TGN1412 getestet. Das Medikament sollte Multiple Sklerose, Blutkrebs und Rheuma bekämpfen. Zwei weitere Probanden hatten ein wirkungsloses Placebo bekommen, was einem bei solchen Tests üblichem Verfahren entspricht. Den Versuch im Norden Londons leitete der US-Pharmakonzern Parexel International. Die Tests seien von der zuständigen Aufsichtsbehörde im Vorfeld genehmigt worden, hieß es von dort. Dies ist das normale Verfahren bei neu eingeführten Medikamenten. Ein Sprecher von Parexel sagte, man habe auch sonst alle empfohlenen Richtlinien eingehalten. Bis zu den jüngsten Versuchen sei das Medikament nur an Tieren erprobt worden, hieß es.
Raste Khan, einer der mit dem Placebo versorgten Männer, erzählte, die sechs anderen seien nach Verabreichung der Dosis „umgefallen wie Dominosteine“. Angehörige berichteten von Szenen wie aus dem Horrorfilm. Der Kopf eines Patienten sei aufgedunsen „wie beim Elefantenmann“. Warum die Tests so verheerend ausfielen, war gestern unklar. Mögliche Ursachen reichen von Überdosierungen bis zu Nebeneffekten, die sich nur bei Menschen einstellen.
Der Zustand der Männer ist unverändert. Daran werde sich wahrscheinlich in absehbarer Zeit nichts ändern, sagte einer der behandelnden Ärzte dem britischen Sender BBC am Freitag. Zwei der Männer befinden sich in einem kritischen Zustand. Einer von ihnen, ein 21-jähriger, könnte bis zu einem Jahr im Koma liegen, berichteten seine Angehörigen unter Berufung auf Informationen von Ärzten. Sämtliche innere Organe, Herz, Niere, Lunge und Leber seien durch das verabreichte Test-Medikament geschädigt worden. Die Angehörigen riefen medizinische Experten in aller Welt zur Mithilfe bei der Behandlung der sechs Patienten auf. Die Ärzte rätseln noch immer, was die starke allergische Reaktion ausgelöst hat.
Die Anwältin der Patienten, Ann Alexander, fordert mehr Aufklärung über die vorgeschalteten Tierversuche. Ihren Mandanten seien dazu widersprüchliche Informationen gegeben worden. Angeblich seien bei den Versuchen Tiere gestorben. Auch die Möglichkeiten eines Produktionsfehlers, einer Verunreinigung oder einer Überdosis müssten geklärt werden. Scotland Yard und die britische Medikament-Aufsichtsbehörde MHRA haben Ermittlungen aufgenommen.
[17.03.2006]
www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/...depot/0/index.html