an alle Mitleser hier und als Besinnliches mal eine etwas andere Weihnachtsgeschichte aus Berlin
DER SPRECHER
von Alexander Osang
Ich gehe mit Pieck raus, sagte Petzold, aber seine Frau schwieg.
Er stand mit seinem Hund, einem vierjährigen Beagle namens Pieck, in der Küchentür, Cathrin stand am Herd, wo sie die Fischsuppe vorbereitete, von der sie behauptete, er würde sie lieben. Eines der vielen Missverständnisse ihrer Ehe, das er nicht mehr ausräumte. Er hasste Fisch. Er fuhr auch nicht gern Ski, obwohl sie jedes Jahr seinetwegen einen Winterurlaub buchte. Er mochte die Holzfällerhemden nicht, die sie ihm zum Geburtstag schenkte. Er sah in den dicken Hemden aus wie jemand, der in einen reißenden Fluss gefallen, von einem Wildhüter gerettet, getrocknet und notdürftig eingekleidet worden war.
Er mochte keine Cargopants, keine Uhren mit Stoppfunktionen, und auf keinen Fall mochte er Rucksäcke, mit denen er in sein Büro am Potsdamer Platz aufbrechen sollte, als wolle er die Eiger-Nordwand bezwingen. Wenn man all ihre Geschenke nebeneinander legte, ahnte man, welche Art Mann Cathrin gern hätte. Eine Art Indiana Jones.
Cathrin kannte ihn nicht, und er hatte keine Lust, sich ihr nach all den Jahren noch einmal vorzustellen. Sie hatte ihn gehört, er war sich sogar sicher, dass sie ihn aus dem Augenwinkel sah, es musste so sein, aber sie schwieg. Er wusste nicht, wann das angefangen hatte: die kleinen Verletzungen, die sie sich zufügten, die winzigen Terrorakte, die sie aneinander begingen. Vor ein oder zwei Jahren vielleicht, die Zeit raste.
Manchmal, wenn sie Gäste hatten, fehlte beim Abendessen auf seinem Platz die Gabel oder das Messer, manchmal auch beides. Alles andere war perfekt eingedeckt. Er salzte dann das Essen nach, das sie gekocht hatte, bevor er überhaupt kostete, weil er wusste, wie sie das hasste.
Petzold stand noch einen Moment in der Tür. Pieck tippelte. Sollte er einen Abschiedsgruß einfordern? Er entschied sich dagegen.
Lars Petzold fühlte sich erleichtert, als er in die Heilige Nacht trat, nicht gedemütigt. Er hatte gelogen, sie waren quitt. Er wollte nicht mit Pieck ums Haus gehen. Oder nicht in erster Linie. Er wollte sich an dem kleinen Kiosk an der Raoul-Wallenberg-Straße eine Zigarette holen. Der Vietnamese, der den Kiosk betrieb, Herr Wang, wie sie ihn nannten, verkaufte einzelne Zigaretten. Ein schöner Brauch, wie für ihn gemacht.
Petzold hatte nach dem WM-Finale aufgehört zu rauchen. Sie hatten das Spiel bei Weinholds im Garten gesehen. Er hatte acht Zigaretten geraucht. Eine in der ersten Halbzeit, drei in der zweiten, vier in der Verlängerung. Cathrin hatte ihn angesehen wie einen Drogenkranken. Später hatte sie in der großen Runde die Schauspielerin Heike Makatsch zitiert, die irgendwann festgestellt haben sollte, dass nur Idioten jenseits der 30 weiterrauchen. Alle hatten genickt, als sei Heike Makatsch eine Art Weltgeist.
Lars ist 42, hatte Cathrin gesagt und ihn dabei angelächelt, wie Kathleen Turner in Der Rosenkrieg Michael Douglas anlächelte, bevor sie ihm die Pastete reichte, die sie aus seinem Hund gemacht hatte. Wuff.
Er hatte ihretwegen aufgehört. Nicht um ihr einen Gefallen zu tun, sondern um ihr ein Argument zu stehlen. Ende August, etwa fünf Wochen nach dem WM-Finale, hatte er sich die erste Zigarette bei Wang geholt, der Tag und Nacht in dem kleinen Kiosk an der Raoul- Wallenberg-Straße saß wie in einem Pförtnerhäuschen. Seitdem war er regelmäßiger Gast. Er hatte Herrn Wang davon überzeugt, neben Pall Mall auch rote Marlboros im Einzelverkauf anzubieten. Die einzelne Zigarette war so natürlich teurer, und es war auch nicht klar, aus welchen Quellen Wang sie bezog, aber er rauchte natürlich weniger so. Und es war aufregender.
Er lief mit Pieck durch den Garten, am dunkelroten Mitsubishi Lancer von Friedrichs und dem weißen Polo der Schradern vorbei, die sie dort wegen der Montagsdemos gegen das Flüchtlingsheim abgestellt hatten. Friedrichs machten eine Mittelmeerkreuzfahrt, die Schradern war über Weihnachten und Neujahr bei ihrer Tochter in der Schweiz. Sie mussten zwei Montagsdemos überbrücken. Man wusste nie, wann etwas aus dem Ruder lief, und bei ihnen im Garten standen die Wagen sicher. Petzold selbst hatte kein Auto.
Er entriegelte das Gartentor, trat auf die Straße, lief aber nicht nach links zu den Zehngeschossern, wo Wangs Kiosk stand, sondern nach rechts in die Eigenheimsiedlung, die das ostdeutsche Wohnungsbauprogramm aus irgendeinem Grund überlebt hatte. Er wusste nicht, ob Cathrin aus dem Panoramafenster guckte und überprüfte, wo die Reise hinging. Ihr Garten grenzte direkt an die Neubauwüste von Marzahn, seine Schwiegereltern hatten hier noch auf dem Dorf gelebt.
Er kannte die Geschichten nur vom Hörensagen, er selbst war in Weißensee groß geworden, Altneubau. Er hatte sich mit seinem Bruder ein halbes Zimmer geteilt, wie sie das nannten, was seiner Frau das Gefühl gab, er habe in den Adel eingeheiratet. Cathrin betrachtete sich allen Ernstes als gute Partie, weil sie auf diesem Marzahner Laubengrundstück aufgewachsen war.
Durch die Hochhäuser, die sie einkreisten wie eine Gruppe entflohener Sträflinge, sahen die Einfamilienhäuser noch bedauernswerter aus. Seltsamerweise hatten die meisten Häuschenbesitzer hier draußen dennoch den Eindruck, sie würden mit ihren Buden auf einer Ölquelle sitzen. Guido Reinhold hatte ihm neulich bei Kaisers mitgeteilt, er habe nichts gegen die Flüchtlinge persönlich, er habe aber etwas dagegen, dass der Wert seines Grundstücks verfalle. Sie standen am Weinregal, Reinhold betrachtete eine Flasche Bordeaux für 3,99, als habe er sie im Keller eines verfallenen Weinguts in Saint Émilion entdeckt.
Lars Petzold war, am Weinregal von Kaisers, der schwarze New Yorker Regisseur Spike Lee in den Sinn gekommen, dessen Eltern mit ihm in eine Gegend gezogen waren, wo italienische Einwandererfamilien lebten. Die weißen Nachbarn, denen es auch nicht so besonders gut ging, waren in Panik verfallen, weil sie dachten, ihre Reihenhäuschen würden nun an Wert verlieren. Petzold hatte es nicht gesagt, weil man einen Banausen wie Guido Weinhold nicht mit Spike Lee beeindrucken konnte und er das unbestimmte Gefühl hatte, einer Diskussion über Fremdenhass in einer Marzahner Kaufhalle nicht gewachsen zu sein.
Es war ein vertrautes Gefühl. Er kannte es aus seiner Ehe und von seinem Beruf. Petzold machte Öffentlichkeitsarbeit für die Deutsche Bahn. Er war einer von vier stellvertretenden Sprechern. In dem Beruf konnte er praktisch nie sagen, was er dachte. Er mochte diesen verrückten Sachsen von der Eisenbahnergewerkschaft gern, und er hasste Hertha BSC, dessen Trikotsponsor die Bahn war.
Der Sportplatz am Ende der Eigenheimsiedlung war beleuchtet und bewacht. Hier sollte das Flüchtlingsheim hingebaut werden. Auf dem Platz war seit Jahren kein Sport mehr getrieben worden, er war zugewachsen, verkrautet und von Hunden flächendeckend vollgekackt, unter anderem von Pieck. Es war absurd, dass dort jetzt drei Polizisten standen. Sie bewachten einen Hundekackplatz in Marzahn.
Pieck zerrte an der Leine. Petzold ließ ihn, in einem Anfall von Respektlosigkeit, laufen. Er schoss zwischen den Polizisten hindurch und hockte, von Scheinwerfern beleuchtet, in der Mitte des Platzes, auf dem demnächst ein Flüchtlingsheim gebaut werden sollte. Ein kackender Hund auf einer Art Gefangeneninsel, sehr wertvoll oder sehr gefährlich. Die Polizisten sahen ihn schläfrig an. Die Flüchtlinge würden sich hier gleich fühlen wie zu Hause.
Komm, Pieck, rief Petzold nach einer Weile.
Der piekt, der beißt nicht, sagte einer der Polizisten. Wie wir, sagte ein zweiter. Sie grinsten.
Nee, nee, Pieck mit ck,, sagte Petzold. Wie Wilhelm Pieck.
Wat?, fragte einer der Polizisten.
Der erste Präsident der DDR, sagte Petzold. Er hatte den Hund so genannt, weil er eigentlich keinen Hund gewollt hatte. Aber Cathrin hatte ihn eher mit Hund gesehen, so wie sie ihm einst vorgeschlagen hatte, ein Barett zu tragen, als sei er Mitglied der Schweizergarde. Sie hatten keine Kinder. Wenn schon einen Hund, dann einen mit einem ironischen Namen.
Er hätte ihn natürlich auch Honecker nennen können oder Ceausescu, aber das wollte er dem Hund nicht antun. Wilhelm Pieck galt als der letzte liebenswerte DDR-Politiker. Petzold konnte das nicht einschätzen, weil er erst lange nach Piecks Tod geboren worden war, aber auf den Fotos sah er nett aus. Außerdem gab es ein langes I in Pieck. Hunde mochten ein I im Namen, hieß es.
NOsthund, sagte einer der Polizisten.
War ja nich allet schlecht, sagte der andere.
Petzold klickte Piecks Hundeleine ein und lief den Weg zurück. Er hörte sie im Hintergrund lachen.
Wangs Kiosk leuchtete einladend aus den Neubaublöcken hervor. Eine kleine Insel, eine Krippe in Marzahn, dachte Petzold. Pieck hüpfte die Treppen zum Kiosk hinauf. Er kannte den Weg, wahrscheinlich rauchte Petzold mehr, als er sich eingestand. Der Laden war leer bis auf einen Mann in einer schwarzen Lederjacke und Herrn Wang natürlich, der zwei Taschenfläschchen Wodka aus dem Regal fischte und sie auf den Tresen stellte. Der Mann stopfte die Fläschchen in die Taschen seiner Lederjacke. Auch eine Art Bescherung, eine andere.
Auf dem Verkaufstresen blinkte ein kleiner Weihnachtsbaum. Der Mann in der Lederjacke hustete und ging. Petzold sah ihm nach, und als er sich wieder zu Wang umdrehte, lag eine Zigarette neben dem Weihnachtsbaum. Eine Marlboro. Wang kannte die heimlichen Bedürfnisse der Marzahner. Die Frage war, ob es ein Vorteil für ihn wäre, wenn die Radikalinskis da draußen einmal an die Macht kämen.
Flohes Fest, sagte Wang. Ihnen auch, Herr Wang, sagte Petzold. Wang?, fragte der Mann.
Petzold schwieg betreten. Solche Sachen passierten ihm selten. Als Sprecher sagte man immer weniger als man wusste, nie mehr. Und als stellvertretender Sprecher sagte man praktisch gar nichts. Wang wusste alles über seine Sucht, er kannte nicht mal seinen Namen. Wahrscheinlich kam er nicht mal aus Vietnam. Korea wäre eine Möglichkeit, dachte Petzold, Japan eher nicht. Wobei selbst dieser Gedanke höchstwahrscheinlich rassistisch war.
Petzold fiel das Youtube-Video eines koreanischen Komikers ein. Der hatte gesagt, Vietnamesen sprächen wie schwule Koreaner, die zu viel Gras geraucht haben. Eine Information, mit der er im Moment nicht viel anfangen konnte. Er war gefüllt mit unnützem Wissen, das er in Tausenden müßigen Bürostunden gesammelt hatte. Er hätte Herrn Wang sämtliche Hai-Attacken der amerikanischen Ostküste aus den letzten zehn Jahren aufzählen oder auf der Stelle zeigen können, wie Matt Damon in der David-Letterman-Show Matthew McConaughey nachmachte.
Weil Weihnachten ist
Geben Sie mir doch ausnahmsweise zwei, weil Weihnachten ist, sagte Petzold.
Er steckte sich eine Zigarette hinters Ohr und nahm noch eine Orange, die er später essen würde, um nicht nach Rauch zu riechen. Als er bezahlen wollte, schüttelte der Mann nur den Kopf, lächelte und sagte: Weil Weihnachten ist.
Petzold wurde rot. Er hatte nichts dabei, was er dem Mann zurückschenken konnte. Außer Pieck, aber das wäre auch missverständlich gewesen. Aßen Vietnamesen nicht Hunde?
Danke, sagte Petzold.
Er blies den Rauch in die Nacht, in Gedanken in der rätselhaften asiatischen Welt.
Er steckte sich die Zigarette gleich vor der Tür an, blies den Rauch in die Heilige Nacht und stieg die Treppe hinab auf die Raoul-Wallenberg Straße, immer noch in Gedanken in der rätselhaften asiatischen Welt. Vielleicht sollten sie den Winterurlaub canceln und lieber nach Vietnam fliegen. Dann hätte er im Kiosk ein bisschen Gesprächsstoff, vorausgesetzt, Wang war kein Koreaner. Petzold war so in Gedanken, dass er die Frau fast umgerannt hätte.
Oh, sagte er.
Frohe Weihnachten, sagte die Frau, die aus irgendeinem Grund ein Mikrofon in der Hand hielt.
Ihnen auch, sagte Petzold.
Wir sind von der Berliner Abendschau, sagte die Frau. Wir würden gern wissen, was sie über die Flüchtlingslage in Marzahn denken.
Petzold bemerkte jetzt die beiden Männer, die im Schatten der Frau standen, einer hielt eine Kamera, einer fummelte an einem Kasten herum. Er sah den Gesichtsausdruck der Frau, diesen aufgeschlossenen Fernsehreportergesichtsausdruck, den er von seiner Arbeit kannte und fürchtete, er sah die rote Lampe auf der Kamera leuchten, er sah den Wodkamann in der schwarzen Lederjacke im Hintergrund wegwackeln und konnte sich in etwa vorstellen, was der dem Fernsehpublikum am Heiligen Abend über die Flüchtlingslage in Marzahn mitgeteilt hatte. Er nahm das alles gleichzeitig wahr.
Er spürte, wie er sich automatisch, im Bruchteil einer Sekunde, in seine Pressesprecherposition hineinversteifte, was schwierig war, weil er in der einen Hand die Hundeleine hielt, an der Pieck zerrte, und in der anderen eine Zigarette. Petzold, der stellvertretende Pressesprecher der Deutschen Bahn, rauchte im deutschen Fernsehen. Er fragte sich, wann er zum letzten Mal einen Mann im Fernsehen hatte rauchen sehen. Helmut Schmidt, dachte er. Und davor Cesar Luis Ménotti, Trainer der argentinischen Nationalmannschaft.
1978 war er sechs gewesen. Ménotti, das hatte er vor ein paar Monaten in einem Magazin gelesen, hatte allerdings vor ein paar Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Blieben er und Schmidt. Schmidt wohnte in Hamburg und hatte, soweit er wusste, keinen Hund.
Er war allein, dachte Lars Petzold. Er würde sein eigener Sprecher sein.
Cathrin Petzold wartete fünf Minuten, bis sie sicher war, dass ihr Mann wirklich weg war und nicht wie gewöhnlich zurückkam, weil er irgendetwas vergessen hatte. Dann goss sie sich ein Glas Weißwein ein. Mit dem zweiten ging sie ins Wohnzimmer. Sie sah aus dem Panoramafenster, wo die Autos ihrer ängstlichen Nachbarn parkten. Es gab keinen unschuldigen, unverstellten Blick mehr in die Welt. Sie war hier eingepanzert. Sie war ihr Leben lang nicht aus ihrem Kinderzimmer herausgekommen.
Eine Weile hatte sie gehofft, Lars würde sie aus der Vorstadthölle befreien, aber er hatte sich hier eingerichtet. Er redete sich sein Leben schön. Sie hatte einen Presssprecher geheiratet, das hatte seinen Preis. Sie drehte sich weg und schaltete den Fernseher ein.
In der Abendschau erzählten sie, dass es keine weiße Weihnachten geben würde, eine Nachricht, mit der sie seit Wochen belästigt wurde. Immer redeten sie über Träume, die sich nicht erfüllten, als hätte sie nicht genug eigene. Sie ging in die Küche, drehte das Gas unter der Fischsuppe aus, die ihr Mann seit Jahren einforderte, obwohl sie lieber Würstchen und Kartoffelsalat gegessen hätte wie früher. Sie schenkte sich Wein nach, ging ins Wohnzimmer zurück, wo gerade so ein Bilderbuchostdeutscher in verschossener Lederjacke über die Ausländerflut herzog.
Ick habe persönlich nischt gegen Ausländer, aber wir ham ja wohl auch jenuch eigene Probleme hier und soweiterundsofort. Cathrin Petzold konnte sie nicht mehr hören, weder die Typen in den Lederjacken noch die bescheuerte Schrader, die sich mehr um ihren Kleinwagen sorgte als um ausgebombte Syrer. Und schon gar nicht die idiotischen Lokalpolitiker, denen es nur darauf ankam, keine Fehler zu machen. Genau wie Lars. Sie nahm einen Schluck Wein gegen die Bitterkeit.
Dann war die Reporterin zu sehen, so eine blonde Enddreißigerin, die, wenn sich Cathrin Petzold nicht täuschte, auch schon was an der Nase hatte machen lassen. Ihr betroffener Gesichtsausdruck kommentierte die Worte des Lederjackenträgers.
Wir sind hier im Stadtbezirk Marzahn, wo es in den letzten Wochen immer wieder Proteste gegen ein geplantes Flüchtlingswohnheim gab, sagte die Frau, und plötzlich erkannte Cathrin Petzold, wo sie stand. Vor dem Kiosk an der Raoul-Wallenberg-Straße, keine zweihundert Meter von ihrem Gartenzaun entfernt. Es gab ein paar Archivbilder von der ersten großen Demonstration, ein paar Wochen war das her, riesige Polizeiaufgebote hatten das Wohngebiet in eine Art Bürgerkriegszone verwandelt, man sah ein paar Neonazis und viele aufgebrachte Bürger, dazu spielte ein Cello. Dann wieder die Reporterin.
Wir wollen in der Heiligen Nacht, die ja in unserem Kulturkreis wie keine andere Nacht daran erinnert, dass man notleidenden Menschen eine Unterkunft bieten sollte, ein paar Marzahner Bürger nach ihren Gedanken fragen, sagte die Frau.
Aus welchem Kulturkreis kommst du denn, du doofe Kuh? Aus Schöneberg? Aus Prenzlauer Berg?, fragte Cathrin Petzold. Sie schüttelte den Kopf. Sie redete mit dem Fernseher. Am Heiligen Abend redete sie mit dem Fernseher.
Da kommt ja schon wieder jemand, sagte die Reporterin.
Die Kamera schwenkte, und in das biblische Bild trat zunächst Cathrin Petzolds Hund und dann ihr Mann. Lars trug ein Sweatshirt von Hertha BSC und hielt eine Zigarette in der Hand. Eine brennende Zigarette. Er blinzelte in die Kamera wie ein Maulwurf und wackelte mit den Schultern, wie er es tat, wenn er im Begriff war, etwas Grundsätzliches zu sagen.
Cathrin Petzold stürzte das Glas Wein hinunter, rannte in die Küche und kam mit der Flasche zurück.
Was hat denn der Heilige Abend damit zu tun?, fragte ihr Mann gerade. Hinter seinem Ohr steckte eine weitere Zigarette.
Nun, sagte die Frau. Damals waren Josef und Maria auf der Suche nach einer Herberge.
Und da dachten Sie, wir gehen mal nach Marzahn, weil hier noch eine Windmühle rumsteht und es jede Menge garstige Landbevölkerung gibt?
Wow, sagte Cathrin Petzold.
Nein, nein. Wir sind bei Ihnen, weil sich die Menschen hier offenbar so schwer mit dem Gedanken tun, Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten aufzunehmen, sagte die Reporterin.
Und jetzt wollen Sie wissen, wie ich da ins Bild passe?, fragte Lars und zog an seiner Zigarette. Er zog wirklich an der Zigarette. Er blies den Rauch in den Himmel. Er hat den Verstand verloren, dachte Cathrin Petzold. Seltsamerweise stand ihm das. Er sah aus, als sei er einem alten französischen Film entstiegen. Wenn man von dem furchtbaren Hertha-BSC-Sweatshirt absah.
Zum Beispiel, sagte die Frau. Gar nicht. So leid mir das für Sie tut. Ich finde es richtig, dass wir uns um Flüchtlinge kümmern. Nicht nur zu Weihnachten. Ich finde auch nicht, dass man die Stadtbezirke gegeneinander ausspielen sollte. Am Ende ist es ja egal, wer hilft, Hauptsache, wir helfen. Wir haben ja hier genug Platz, wahrscheinlich mehr als Sie, sagte Lars.
Ich?, fragte die Reporterin.
Ja, Sie, wo wohnen Sie denn?, fragte Lars Petzold.
Seine Frau nickte.
Der Mund der Reporterin stand offen. Sie hatte eindeutig etwas an der Nase machen lassen, dachte Cathrin Petzold. Sie hatte diese kleinen Löcher neben den Nasenflügeln.
Ist ja eigentlich auch egal. Ich komme ursprünglich aus Weißensee und arbeite in Mitte, sagte Petzold.
Ach, sagte die Frau vom Fernsehen.
Ich könnte auch woanders wohnen, aber jetzt wohne ich nun mal hier. Hat sich so ergeben. Ich glaube nicht, dass unsere Immobilienpreise fallen könnten, weil ich nicht den Eindruck habe, Leute wie Sie suchen ein Grundstück in Marzahn. Ich habe auch keine Angst um meinen Hund. Kinder und Autos habe ich nicht. Ich finde es aber ein bisschen seltsam, dass der alte Sportplatz, wo das Heim gebaut werden soll, jetzt schon von der Polizei bewacht wird. Ich war gerade mit meinem Hund da. Er heißt Pieck. So wie der erste Präsident der DDR.
Der Kameramann schwenkte auf den Hund. Pieck saß still da. Er sah gut aus. Cathrin Petzold lächelte.
Er ist vier Jahre alt, und ich wollte ihn eigentlich nicht. Aber meine Frau sagt, er passt zu mir.
Der Kameramann schwenkte zur Reporterin. Sie nickte, aber ihr Blick war leer. Die Kamera schwenkte zurück zu Lars.
Ich will jetzt nicht zu philosophisch werden. Aber es gibt so viele Missverständnisse. Sehen Sie, ich esse heute Abend Fischsuppe, obwohl ich Fisch nicht mag. Mein Frau weiß das nicht, oder sie hat es vergessen. Ich mag auch Hertha BSC nicht, obwohl ich diesen Pullover hier trage. Und ich habe im Sommer aufgehört zu rauchen, sagte er, zog an seiner Zigarette und schnippte sie dann in die Nacht. Gleich nach dem WM-Finale.
Herzlichen Glückwunsch, sagte die Reporterin, sie drückte auf den Knopf im Ohr, aus dem es offensichtlich neue Nachrichten gab.
Wissen Sie eigentlich, wer Raoul Wallenberg war?, fragte Petzold und zeigte auf das Straßenschild über ihnen. Nein, sagte die Reporterin. Und mit diesem Geständnis geben wir zurück ins Studio.
Der Moderator der Abendschau saß in seinem Studio und lächelte.
So viel zur Heiligen Nacht im schönen Stadtbezirk Marzahn. Wir zeigen Ihnen jetzt eine kleine Reportage über die traditionelle Weihnachtsrundfahrt von Berliner Motorradfahrern. Und anschließend verraten wir Ihnen dann, wer Herr Wallenberg war.
Cathrin Petzold saß in ihrem Wohnzimmersessel und überlegte, ob sie das Gas unter der Fischsuppe wieder andrehen sollte.
Wallenberg war ein schwedischer Geschäftsmann, der im Zweiten Weltkrieg vielen Juden in Ungarn das Leben rettete, sagte Lars Petzold. Anschließend haben ihn dann die Russen verschleppt. Man hat ihn nie gefunden.
Wir sind nicht mehr auf Sendung, sagte die Reporterin. Sie nahm den Knopf aus dem Ohr. All ihre Straßenreporteraufgeschlossenheit hatte sie verlassen.
Ja, dann, sagte Petzold.
Er spürte eine leichte Enttäuschung, er hätte gern noch ein bisschen weitergeredet. Er hätte von den Autos in ihrem Vorgarten erzählen können und von Spike Lees Kindheitserfahrungen in Brooklyn. Er hätte von Herrn Wang erzählen können und seinen Schwiegereltern, die hier einst auf dem Land lebten. Die Zeiten änderten sich. Es tat gut, endlich zu sagen, was er dachte. Vielleicht war die Wallenberg-Frage ein bisschen zu fett gewesen.
Er wollte nicht recht haben, darum ging es nicht, er wollte auch nichts beschönigen. Er wollte nur endlich einmal sagen, was er dachte. Vielleicht kippte er nach all der Depression in dem doofen DB-Glasturm und in seinem Wohnzimmer in eine manische Phase.
Ich wohne übrigens in Pankow, sagte die Frau.
Da ist es ja auch schön, sagte Petzold. Frohe Weihnachten.
Frohe Weihnachten, sagte die Frau.
Eisern Union, sagte der Kameramann.
Ja, sagte Lars Petzold, der auch den 1. FC Union nicht sonderlich mochte. Schon allein, weil Guido Weinhold so ein eingefleischter Union-Fan war. Die Geschichten vom sagenhaften Weihnachtssingen der Union-Gemeinde konnte er nicht mehr hören. Für Weinhold war das doch auch nicht viel anders als die bescheuerten Montagsdemos. Immer auf der richtigen Seite stehen, am besten mit einer Kerze in der Hand. Aber es war genug jetzt. Genug Ehrlichkeit für einen Tag.
Komm, Pieck, sagte er.
Sie liefen am Zehngeschosser vorbei. Die kleine Siedlung am Ende der Straße sah von hier aus ziemlich einladend aus. Petzold dachte an die Autos in seinem Vorgarten. Friedrichs Lancer und der Polo von Frau Schradern. Die mussten sofort weg. Er würde einen Abschleppwagen bestellen. Man musste den Anfängen wehren. Dann aber fiel ihm das Interview mit Joni Mitchell ein, das er vor ein paar Tagen gelesen hatte.
Sie hatte sich ziemlich über die moderne Musik aufgeregt, aber am Ende hatte sie etwas Interessantes über Männer und Frauen gesagt. Wenn jemand Probleme hat, bieten Männer sofort Lösungen an, Frauen aber fühlen erstmal mit. Männer sagen: So! Frauen sagen: Oh! Das war die Quintessenz der Erzählung von Joni Mitchell.
Lars Petzold blieb stehen. Er fühlte sich nicht schlecht und hätte das Gefühl gern mit seiner Frau geteilt. Aber wie? Er zog die Zigarette hinter seinem Ohr hervor und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Erst mal die Fischsuppe, dachte er. Dann sehen wir weiter.
Cathrin Petzold saß ein paar Minuten still in ihrem Wohnzimmersessel. Auf dem Fernsehbildschirm fuhren irgendwelche Berliner Rocker, die sich als Weihnachtsmänner verkleidet hatten, über den Kudamm. Alle verkleideten sich. Jeder wollte jemand anderes sein. Sie schaltete den Fernseher aus.
Dann stand sie auf und suchte den alten Aschenbecher, den Lars so gemocht hatte.