...an den Pranger gestellt.
Habe heute mit einer sehr guten und engen Freundin telefoniert. Sie ist als Mutter eines Sohnes allein erziehend, als Friseurin in Teilzeit beschäftigt und erhält wegen des geringen Einkommens zusätzlich soziale Hilfen, die z.B. auch Schulbücher betreffen.
Ihr Sohn wird in diesem Sommer von der Grundschule auf das Gymnasium wechseln. Nun hat sie ein Schreiben vom Gymnasium erhalten, in welchem sie die Wahl hat, die Schulbücher selbst zu bezahlen (jedoch ohne jegliche Mitteilung darüber, wie hoch die Kosten denn dafür wären - und auch nach telefonischer Nachfrage bezüglich der Kosten erhielt sie keine Auskunft...) oder die Schulbücher als soziale Hilfe über die Schule bestellen zu lassen. So weit so gut. Der Haken: Sollten die Schulbücher über die Schule als soziale Hilfeleistung bestellt werden, so erhalten die betroffenen ca. 30 % der Schüler aus der jeweiligen Klasse die Bücher "vor den Augen aller anderen nicht betroffenen Schüler" am ersten Schultag vom Lehrer in der Klasse ausgehändigt, während eben die nicht betroffenen Schüler ihre Bücher bereits längst im Schulranzen/Tornister haben.
Somit wissen also direkt 70% der "nicht betroffenen Schüler" (also diejenigen, deren Mütter/Väter/Eltern keine zusätzlichen sozialen Hilfen benötigen), welche anderen Schüler bzw. deren Mütter/Väter/Eltern sich selbst noch "nicht einmal die Schulbücher" leisten können.
Und das ist schlimm. Denn meistens wissen die betroffenen Kinder, wie auch z.B. der Sohn meiner Freundin selbst noch nicht einmal, dass sie mit auf soziale Hilfen angewiesen sind, da die Mütter/Väter/Eltern sich ihren Kindern gegenüber schämen, dieses anzusprechen und so gut wie es irgendwie geht, den Kindern und dem Umfeld gegenüber geheim halten.
Da es allgemein - selbst bei Politikern - bekannt sein sollte, wie grausam gerade auch Kinder manchmal sein können - ist es mir UNBEGREIFLICH, wieso hier zwingend die sozial schwächeren Kinder auch noch ÖFFENTLICH an den PRANGER gestellt werden MÜSSEN!!!
Es ist doch grundsätzlich schon mal absolut toll, dass es auch Kindern aus recht schwierigen Verhältnissen gelingt, überhaupt auf´s Gymnasium zu kommen - die nicht nur aus sozial schwächeren Verhältnissen stammen oder kommen (Gründe sind ja sehr vielfältig) sondern zudem teilweise auch noch aus eher bildungsschwächeren Verhältnissen stammen oder kommen. Aber statt dass der Staat und unsere Gesellschaft gerade auch auf diese Kinder und deren Eltern stolz sind, dass sie es "trotz aller sozialen, finanziellen und bildungstechnischen Schwierigkeiten schaffen", werden genau diese Kinder mit ihren Eltern "öffentlich vorgeführt, geradezu gedemütigt und an den Pranger gestellt".
Es wäre doch so einfach. Warum kann man denn nicht den "betroffenen Erziehungsberechtigten" die Schulbücher entweder einen Tag vorher zum Abholen zur Verfügung stellen oder auch am 1. Schultag morgens eine Stunde vor Unterrichtsbeginn, so dass dann eben ALLE Schüler am 1. Tag in der 1. Stunde alle ihre Schulbücher "gleichzeitig" im Ranzen/Tornister haben???!!! WARUM??? Warum ist das staatlich so geregelt, dass die "nicht betroffenen Schüler" ihre Bücher am 1. Schultag morgens schon im Tornister haben, die "betroffenen Schüler" jedoch VOR den Augen ALLER ihre Schulbücher vom Lehrer überreicht bekommen - womit ALLEN anderen Schülern klar ist:
"Diese Schüler sind "Sozialhilfeschnorrer"!!! (Und damit sind sie schon "außen vor"!)
Meine Freundin war natürlich komplett verzweifelt. Sie hat panische Angst, dass ihr Sohn a) direkt von den nicht betroffenen Schülern als "Hartz 4- Asi" abgestempelt wird und b) dass er nun erstmals überhaupt erfährt, dass seine Mutter zusätzliche Hilfe vom Staat benötigt, weil sein leiblicher Vater nur ca. 100,-- Euro im Monat für ihn zahlt (weil der Vater noch VIER weitere Kinder hat...) - aber seine Mutter ihm bisher nichts davon erzählt hat...
Ich selbst hatte direkt einen dicken, fetten Kloß im Hals und die Tränen standen mir in den Augen obwohl ich gar nicht selbst betroffen war. Ich konnte es mir nur halbwegs vorstellen und halbwegs nachempfinden, wie sie sich wohl ungefähr anfühlen muss. Vor allem aber, wie ihr Sohn sich am 1. Schultag, stolz wie Oskar, dass er überhaupt auf´s Gymnasium kam, fühlen muss, wenn er vor der gesamten Klasse als "Kind einer Sozialhilfeempfängerin" erst GEOUTET und später dann vielleicht abgewertet, gedemütigt und erniedrigt wird.
Obwohl ich zum Glück selbst nie in einer solchen Situation war, meine ich mir halbwegs vorstellen zu können, wie schrecklich eine solche Erfahrung sein kann und wie sehr eine solche Erfahrung die eigene Persönlichkeit dauerhaft prägen könnte...
Meine Freundin sagte zu mir: "Lieber esse ich 8 Wochen nur die Hälfte und weniger, bevor ich meinen Sohn so demütigen lasse und bezahle die Schulbücher selbst!"
Nun konnte ich meiner sehr guten und engen Freundin die erste Panik und die Verzweiflung dahingehend nehmen, indem ich ihr sagte, dass ich sehr gerne die Kosten für die Schulbücher übernehmen würde. Sie wollte das natürlich erst nicht annehmen - aus Scham und Stolz. Jedoch konnte ich ihr glaubhaft versichern, dass sie sich mir gegenüber nicht schämen muss und falscher Stolz in dieser Situation hier auch fehl am Platze sei, da ich glücklicherweise über die entsprechenden Mittel verfüge, sie und ihr Sohn mir auch sehr wichtig sind und ich keinerlei Bedingungen stelle. Ich finde einfach dieses System so absurd und krank, dass ich alles versuche, wenn auch nur im Kleinen, dagegen zu wirken.
Und an dieser Stelle fallen mir die "Schuluniformen" in vielen Ländern ein. Auch wenn ich selbst grundsätzlich gegen jede "Gleichmacherei" bin, so bin ich mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass gerade "Schuluniformen" auch ihr Gutes haben können. Denn: Wenn ALLE Schüler gleich angezogen sind, kommt es zumindest schon mal, was die Kleidung betrifft, nicht mehr zu Neid und Häme. Dann ist es nämlich egal, ob der eine oder andere "Lacoste", "Ralph Lauren", "Napapirji", "Prada", etc. oder "Aldi", "Lidl", "Seeman" und "Kik" trägt.
Letztendlich ist es als Individuum innerhalb einer Gesellschaft und Gemeinschaft oder auch einer Schulklasse immer schwierig - vor allem dann, wenn man zu den "Wenigen" gehört...
Sind 70% eher klug und die anderen 30 % eher dumm, so sind die Klugen die Überlegenen.
Sind 70% eher dumm und die anderen 30% eher klug, so sind die Dummen die Überlegenen.
Sind 70% eher dünn und die anderen 30% eher dick, so sind die Dünnen die Überlegenen.
Sind 70% eher dick und die anderen 30% eher dünn, so sind die Dicken die Überlegenen.
Sind 70% eher reich und die anderen 30% eher arm, so sind die Reichen die Überlegenen.
Sind 70% eher arm und die anderen 30% eher reich, so sind die Armen die Überlegenen.
Und so weiter und so fort... Vordergründig und "erst einmal". Ganz so einfach ist es jedoch nicht, auch wenn es scheinbar so aussieht, als würde immer nur "die Menge" gewinnen - auch wenn es seit Jahrtausenden so ist, dass derjenige, der aus der Masse heraussticht entweder gehasst oder verehrt wurde. Jedenfalls wurden solche individuellen Menschen immer schon sehr, sehr skeptisch von der Restgesellschaft betrachtet.
(An der Börse ist es ja ähnlich: Am Ende gewinnt auch nicht gerade die Masse ;-))
Denn, wenn es so einfach wäre, wäre es doch theoretisch kein Problem, dass Milliarden von Hungernden und Ausgenutzten weltweit sich gegen ihre wenigen Herrscher auflehnen könnten und diese stürzen könnten.
Manchmal - aber eher selten - gewinnt auch der EINZELNE trotz aller Widrigkeiten. Aber nur selten und auch nur dann, wenn er diese Widrigkeiten kennt, erkennt, diese aushält, aushalten kann, ausweichen kann, sich zurückziehen kann, (emotional/persönlich, politisch, wirtschaftlich, finanziell) sich all diesen Widrigkeiten auch mit Selbstbewusstsein und eigener Überzeugung entgegenstellen kann.
Das ALLES zu erahnen, erkennen, zu analysieren, zu bewerten, zu bewältigen ist schon für mindestens 90% der ERWACHSENEN eine Mammut-Aufgabe, die den WENIGSTEN befriedigend gelingt.
WIE ABER sollen denn dann bitte Kinder im Alter zwischen 10-12 Jahren dieses alles bewältigen können???!!! Egal welcher Herkunft?!
Ich verstehe einfach nicht, WARUM man nicht versucht, relativ begabte Kinder - egal aus welchen Verhältnissen sie stammen und kommen, "gleichermaßen" zu fördern wie andere Kinder auch.
Statt Neid, Hass, Häme und "Mitleid" untereinander, bereits im Kindesalter zu schüren, könnten die jeweiligen Regierungen insbesondere in Deutschland vielmehr darauf achten, dass eine gewisse Chancengleichheit besteht.
Diese Chancengleichheit würde wahrscheinlich auch insgesamt der Wirtschaft weiterhelfen.
Denn letztendlich könnte es doch eigentlich völlig egal sein, ob unsere personellen Spitzen in Wirtschaft, Finanzwesen, Politik etc. entweder aus "dem Mittelstand", "der Akademiker" , "dem Adel", "dem Reichtum" oder "der Sozialhilfeempfänger" entstammen.
"Theo"retisch natürlich nur. Denn auch ein schummelnder und lügender von und zu "Theo" ist in Deutschland immer noch mehr wert und hat weitaus bessere Chancen aufzusteigen und nach Abstieg sogar "wieder aufzusteigen" als ein fleißiger, lernender, ehrlicher "Sozialhilfeempfänger", der auch noch wesentlich begabter insgesamt sein kann, Dr.Dr. und Professor haben kann, tausendmal besser aussehen kann - aber eben leider kein von und zu ist, nicht der Wirtschaftselite entstammt, oder sich nicht extrem einschleimt und seine Seele verkauft.
Wie dem auch sei. Ich finde es jedenfalls mehr als erbärmlich, dass ausgerechnet in Deutschland bereits Kinder öffentlich an den Pranger gestellt werden, obwohl gerade die Kinder an NICHTS schuld sind! Weder an den Beziehungsproblemen ihrer Eltern, noch an der Politik noch an den Wirtschaftsverfehlungen! Die Kinder sind VÖLLIG SCHULDLOS und müssen ALLE SCHULD auf ihren kleinen Schultern tragen. Sozial, wirtschaftlich, finanziell, politisch. Ungewollt vor allem. Unverantwortlich, erbärmlich und schlimm finde ich das.
Nicht ganz so erbärmlich und schlimm finde ich das Wetter von morgen ;-)
In diesem Sinne
Eure Kosto