War’s das nach oben?Liebe Leserinnen und Leser,
bisher liegen nur sehr wenige Quartalsbilanzen großer US-Unternehmen auf dem Tisch.
Aber per heute, den 15.7., sind die Reaktionen überaus unerfreulich ... wenn man bullish ist. Im Vorfeld waren diese Resultate ja wochenlang als „erneut hervorragend“ gelobt worden. Zu einem Zeitpunkt, an dem Analysten angeblich schon Bescheid wussten, während die Unternehmen selbst noch nicht annähernd absehen konnten, wie die Daten aussehen würden. Wie immer also. Jetzt sehen wir, dass die ersten Ergebnisse ganz ordentlich sind, ohne einen aus den Schuhen zu reißen ... aber die Reaktion darauf noch nüchterner ist. Hatten Aloca und Intel nachbörslich noch zackig zugelegt, halbierte sich dieses Plus am darauffolgenden Tag im regulären Handel in beiden Fällen auf die Hälfte. Und J.P. Morgan, die erste große US-Bank im Reigen der Zahlen, konnte die Erwartungen der Analysten nur erfüllen, was den Gewinn angeht ... und unterbot sie, was den Umsatz betrifft. Was dazu führte, dass die Aktie nach US-Handelbeginn gleich mal fiel.
Gleichzeitig regnet es aus den USA schwache Konjunkturdaten. Noch steht die Produktion auf erhöhtem Level, weil noch Aufträge genug aus der Phase des blinden Optimismus im Herbst, Winter und Frühjahr da sind. Aber bereits jetzt steigen überall die Lagerbestände, während der Baltic Dry Index anzeigt, dass immer weniger Rohstoffe von A nach B geschippert werden. Unschöne Perspektive. Die noch weit, weit finsterer wird, wenn man sich klar macht, dass die beiden Achillesfersen Arbeitsmarkt und Immobilienmarkt nach wie vor kaum oder gar nicht über den Krisentiefs aus dem Frühjahr 2009 stehen. Die zahllosen Anstrengungen der US-Regierung sind verpufft ... und beide Bereiche können ohne Stützräder trotzdem auch heute noch nicht alleine laufen. Und, und das ist das Schlimmste: Eine neue Welle an Geld in diese Bereiche zu pumpen, stehen drei Aspekte entgegen, die dazu führen werden, dass man erst dann erneut eingreifen wird, wenn es viel, viel zu spät ist:
Erstens, dass es keinen Grund gibt zu glauben, dass es diesmal besser funktionieren würde. Warum also gutes Geld schlechtem hinterherwerfen. Zweitens, dass das politisch nicht durchsetzbar wäre und Drittens, dass unter all denen, die immer noch glauben, die Lage sei jetzt im Griff, Panik ausbrechen würde. Denn erneute Stützungsprogramme wären der Beweis, dass all das Gefasel seit letztem Jahr dummes Zeug war. Was mich an die permanente Litanei des Präsidentschaftskandidaten McCain erinnert: „The economy is strong“ ... immer wieder plapperte er das in 2008 vor sich hin. Sie war es nicht. Und sie ist es heute ebenso wenig. Was auch der Konsum zeigt, das Rückgrat der US-Wirtschaft. Nachdem es im Mai und Juni dort bergab ging, ist für das abgelaufene 2. Quartal insgesamt ein Minus zu verzeichnen.
Hierzulande wird oft entgegnet, dass diese Probleme in den USA ein PaL (Problem anderer Leute) sei, denn hier laufe doch alle wie geschmiert. Ja. Wenn man den Sprüchen derer glaubt, die an Aktienkäufern verdienen, dann schon. Man preist die stetig sinkende Zahl an Arbeitslosen ohne zu hinterfragen, warum mehr Menschen Hartz IV beziehen müssen, warum die Sozialhilfeempfänger immer zahlreicher werden und ohne zu prüfen, welche immer kreativeren statistischen Klimmzüge angewendet werden, um diese Jubelzahlen zu erschaffen. Man ignoriert, dass in den letzten Wochen wieder erstaunlich viele Betriebe Kurzarbeit anmeldeten. Man ignoriert, dass Europa einem Abkippen der USA immer drei bis sechs Monaten hinterher hinkt. Und man ignoriert mangels allerneuester Schlagzeilen, dass die EU nach wie vor genau da steht, wo sie vor zwei Monaten stand: Mit anderthalb Beinen über dem Abgrund. Dass der Euro aktuell wieder steigt, hat damit nichts zu tun. Er indiziert keine Verbesserung der Lage in der EU, sondern ist das Ergebnis einer beginnenden Schwäche des US-Dollar, der die dort einknickende Konjunktur reflektiert.
Wegsehen hilft gemeinhin wenig. Vergleichbares wurde Ende 2007 praktiziert. Die Kapelle spielte fröhlich auf dem sinkenden Schiff. Man erklärte, der Immobilienmarkt werde die restliche Wirtschaft nicht beeinträchtigen. Man erklärte später, die Rezession in den USA werde Europa nicht erreichen, weil Asien uns aus der Patsche helfen werde. Man erklärte, als beides völlig anders kam, dass die Aktien die einzig sicheren Werte in einer Krise seien. Die Anleger folgten den Trommlern der Glückseligkeit jedes Mal. Aber geholfen hatte es damals nichts. Sich die Decke über den Kopf zu ziehen ist kein probates Abwehrmittel gegen Monster, haben wir mal gelernt. Damals allerdings mit dem Zusatzargument, dass es ja ohnehin keine Monster gibt. Das haben sich viele offenbar lebenslang zu eigen gemacht. Sie erklären, dass es keine Monster (oder Krisen) gibt, ziehen sich die Decke über den Kopf (weil das ja dann wiederum unproblematisch ist), kaufen Aktien und verlieren ihre Ersparnisse.
Nicht, dass 2008/09 dabei ein Einzelfall war. 2000-2003, 1987, 1929-32, 1907 ... die Reihe ist ellenlang. Und es lief immer nach dem selben Schema:
Die Krise ist für jedermann, der sehen will, sichtbar. Aber die Mehrheit will nicht hinsehen, zumal die Banken und Politiker allen erzählen, da seien gar keine Monster (bzw. Krisen) ...und die müssen es ja wissen. Also sehen die Anleger die Lage genau so, wie man das von ihnen erwartet: als Chance. sie kaufen Aktien, Rohstoffe ... und dann fallen die Kurse. Und die Banken kommen wie durch ein Wunder reicher als zuvor und die Politiker ungeschoren aus der Krise heraus. Die Anleger nicht.
Nun kann man als Argument dafür, dass die Kurse in den kommenden Wochen und Monaten trotz allem noch weiter anziehen, folgendes ins Feld führen. Ja, die US-Wirtschaft kippt. Ja, die EU wackelt. Ja, Asien wächst nicht mehr schnell genug, um uns alle auch noch mit über Wasser zu halten. Ja, die Perspektiven sind wirtschaftlich kritisch. ABER! Es ist unendlich viel Kapital nicht investiert, das verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten sucht. Und wenn das Geld, das momentan in Anleihen liegt, die wenig Zinsen bringen, erst mal in Aktien wechselt, muss man drin sein, sonst verpasst man die Hausse. Zudem: Wenn die Krise wieder aufflammt, dann sind nur Aktien Investments, deren Wert erhalten bleibt.
Ich habe alle drei Argumente in den letzten Jahren immer wieder widerlegt und die Denkfehler dabei aufgezeigt. Das spare ich mir diesmal, immerhin können Sie ja alle Kolumnen der letzten drei Jahre auf meiner WebSite nachlesen. Ich erwidere nur eines: Alle diese Argumente wurden Anfang 2008 auch ins Feld geführt. Hat irgendwie nichts geholfen. Nur kommt dann natürlich das Gegenargument: „Diesmal ist aber die Situation völlig anders“. Ein schöner Spruch, man darf nur nicht nachfragen, WAS denn anders sei. Da findet sich nämlich nichts, was diesmal bullish wäre.
Ein anderes Argument, das für weiter steigende Kurse vor allem am Aktienmarkt ins Feld
geführt wird, ist das des Vorjahres als Blaupause für diesen Sommer. Damals hatten wir ja auch eine, wenngleich kleinere, vollende Trendwendeformation in Form einer Schulter-Kopf- Schulter (SKS) in den US-Indizes, die dann plötzlich Mitte Juli egalisiert wurde, als die Kurse wieder über die Nackenlinie hinaus nach oben schossen und immer weiter und schneller stiegen. Schon witzig, dass man hier sofort bereit ist, alleine die beiden Elemente „SKS“ und „Juli“ in eine Aussage über ab sofort weiter steigende Kurse zu quetschen, zugleich aber die scheußlichen Parallelen der momentanen Lage zu der Phase 1929-1932 einfach als „Quatsch“ einstuft. Aber da wären wir wieder bei der Technik „Bettdecke über den Kopf“.
Nein, wir sind heute in einer anderen Situation als 2009. Damals war man bereit, blind an das endgültige Ende der Krise zu glauben. Aber damals sah man ja auch noch nicht, dass all diese Programme und Milliarden nichts nützen würden. Und damals bekamen die USBanken reichlich Gratisgeld in die Hand, um genug Kredite an die Wirtschaft vergeben zu können, was einige findig dazu nutzten, das Geld nicht an Schuldner zu verplempern, sondern lieber damit die Börsenkurse nach oben zu zocken. Dergleichen „Money for Nothing“ ist heute weit knapper, die Gesamtlage aber zugleich eindeutig finsterer ... zumal, wie gesagt, außer bei den Königen der Blauäugigkeit auch die Hoffnung fehlt, dass die Lage zeitnah besser werden könnte. Und vergessen wir nicht, wie der Chart auch zeigt: Damals wurde der 200 Tage-GD verteidigt, als die SKS-Formation egalisiert wurde. Heute aber müssten wir über diese Linie erst einmal drüber!
Aber das Argument „diesmal ist alles anders“ lasse ich zumindest für einen Bereich gelten: Das einzige, was mir wirklich anders scheint ist, dass die Zahl derer, die auf das Getrommel der berufsbedingt dauer-bullishen Analysten hereinfallen, abgenommen hat. Mehr und mehr Anleger merken, dass diese propagierten und damit von vielen auch so empfundenen Kursgewinne der letzten sechs bis neun Monate nicht existieren. Dass die Börsen eben nicht bullish sind sondern in Abwärts- oder, wie beim Dax, im besten Fall in Seitwärtstrends verlaufen. Die Zahl derer, die heute einstiegt ohne zu merken, dass schon wieder mal der morgen anstehende Verfalltermin am Optionsmarkt die Kurse treibt, ist erfreulich gestiegen. Und es dürften endlich auch mehr Anleger sein, die sich bewusst sind:
Nach dem Verfall im Juni kam das Window Dressing zum Quartalsende ... danach das
Vorkaufen vor den angeblich erneut tollen US-Quartalsbilanzen ... und dann schon wieder die Rallye der Put-Stillhalter am Optionsmarkt. Für diesen aktuellen Verfall. So haben wir uns bis heute durchlaviert, ohne dass sich die sich spürbar eintrübende Gesamtlage in den Kursen niedergeschlagen hätte. Aber nach dem morgigen Verfall folgt kein Quartalsende und keine erneuten Quartalsberichte, auf die man vorkaufen könnte. Es folgen nur die Fakten in Form meiner Ansicht nach bestenfalls erfüllter Prognosen bei den US-Unternehmen.Trotzdem kann man nie ausschließen, dass die Aktienmärkte auch in den kommenden Wochen weiter steigen. Aber nur, weil man an den Börsen eben nie etwas ausschließen darf, wenn man nicht nonstop gegen die Wand fahren will. Rational betrachtet würde ich behaupten: Noch ein, zwei Tage könnte es raufgehen, vielleicht gibt es sogar noch eine kuschelige Bullenfalle, wenn der Dax kurz über 6.340 geht. Aber auf Sicht August und September würde ich auf Basis rationaler Aspekte behaupten: Das war’s dann nach oben für die kommenden Wochen und Monate!
Mit den besten Grüßen
Ihr Ronald Gehrt
(www.system22.de)
Quelle: www.system22.de/Marktkommentar2010_07_15.pdf
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