Über folgendes Interview aus der brand.eins bin ich leider erst gestern gestoßen, es lohnt sich aber wirklich zu lesen. Gerade für diejenigen (mich eingeschlossen), welche sich mit "allgemein verständlicher" Literatur zur Finanzmisere etwas leichter tun und so manches Aha-Erlebnis verspüren möchten ... :)
Und schonmal sorry für's Crossposting, aber so ein bisschen Basislektüre kann nicht schaden. Schönen Sonntag noch und eine erfolgreiche Woche! w.
brand eins 4/2008
"Kettenbriefe unter Kapitalisten"
Was immer der Laie über die US-Immobilienkrise und ihre Folgen erfährt, macht ihn fassungslos. Und was immer sogenannte Experten dazu sagen, trägt zu zusätzlicher Verwirrung bei. Was passiert da gerade? Ist das nur dumm gelaufen oder ein Systemfehler? Und wem kann man noch trauen, wenn schon Banker nicht mehr wissen, was sie tun? Eine Spurensuche mit Stephan A. Jansen, Inhaber des Lehrstuhls für Strategische Organisation & Finanzierung an der Zeppelin University Friedrichshafen.
[brand.eins arbeitet eng mit der ZU zusammen, zumindest gibt's dort auch ein brand.eins-stipendium ... das Interview muss man sich auch wie ein gutes Gespräch zwischen Chefredakteurin und Gründungsrektor vorstellen ... nur als Hintergrundwissen, w.]
Als PDF: www.brandeins.de/ximages/736953_100b10408i.pdf - lohnt sich!
brand eins: Herr Jansen, US-Banken geben Immobilien-Kredite an Menschen, die kaum ihren Gebrauchtwagen bezahlen können, verkaufen diese Kredite dann im Paket weiter - und plötzlich steht das gesamte Finanzsystem kopf. Sind wir in einem schlechten Film?
Jansen: Zumindest hat der Film eine gekonnte Dramaturgie - mit vielen Cliffhangern. Denn dadurch, dass die Kapitalisierung der Krise stückchenweise kommuniziert wird, steigt die Spannung und das Gefühl des Undurchschaubaren. Dabei sind die Mechanismen, die solche Krisen auf dem Finanzmarkt auslösen, eigentlich vergleichsweise gut erforscht.
Und die besagen?
Im Grunde steht am Beginn jeder Finanzmarkt-Krise eine finanzwirtschaftliche Innovation. John Kenneth Galbraith sieht in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929 den Startpunkt in der Erfindung des Ratenkredites, den es bis dahin nicht gab und der dazu geführt hat, dass Aktien über Kredite finanziert werden konnten. Das war anfangs prima, aber irgendwann fiel auf: Ups, wenn die Kurse sinken, habe ich den Kredit immer noch.
An Ratenkredite haben wir uns inzwischen gewöhnt. Dass allerdings schlechte Risiken im Paket verkauft werden und auch noch Käufer finden, ist nicht so leicht zu verstehen.
Ob man das Prinzip der Derivate versteht, ist nicht entscheidend. Wichtiger ist, die Krise als solche zu verstehen - und das ist einfach, weil Krisen in dem kapitalmarktbezogenen Zyklus aus Angst und Gier eine anthropologische Konstante sind. Am verwunderlichsten ist eigentlich, dass es noch immer solche Verwunderung auslöst, dass es eine Krise gibt.
Also ist alles in bester Ordnung? Wir hatten eine Krise, und morgen erfinden wir das nächste Finanzprodukt?
So haben wir es bisher gehandhabt. Der Schwarze Montag am 19. Oktober 1987 - mit dem bisher stärksten Kursrückgang in Höhe von 22,6 Prozent an nur einem Tag - basierte ebenfalls auf einer finanzmathematischen Erfindung. Sie stammte von den Ökonomen Fischer Black und Myron Scholes aus dem Jahr 1973, also dem Jahr der ersten Ölkrise: der Portfolio Insurance. Am 23. September 1998 waren es dann eben dieser Scholes und sein Ko-Nobelpreisgewinner Robert Merton, die mit dem damals noch nahezu unbekannten Konzept des Hedgefonds sehr kurzfristig sehr viel Geld verloren. Sie bezeichneten sich aufgrund der Komplexität der Derivate, mit denen sie mit 2,2 Milliarden US-Dollar Eigenkapital Nominalwerte von 1,25 Billionen US-Dollar gehebelt hatten, auch selbstbewusst als ein "Finanztechnologie-Unternehmen". Heute sind einmal mehr die Hedgefonds wie Carlyle 3 oder Absolute Capital beteiligt und erstmals auch die fünftgrößte US-Investmentbank Bear Stearns, die nur dank einer dramatischen Rettungsaktion der US-Zentralbank und J P Morgan Chase nicht unterging.
Dass eine Bank betroffen ist, ist neu?
Nein, aber neu ist, dass die Banken, die ursprünglich zur Risikoübersetzung zwischen Wirtschaftssubjekten erfunden wurden, nun selbst zum Risikoproduzenten werden - und das macht erst einmal nervös. Ein weiterer Unterschied liegt in der Individualisierung: Beim Terrorismus wie auf dem Finanzmarkt lernen wir aktuell, dass einzelne Menschen gewaltige globale Kettenreaktionen auslösen können. Der Einzelne hat Instrumente - ob Flugzeuge oder Finanzinstrumente - in der Hand, mit denen er globale Veränderungen bewirken kann. Nicht ohne Grund hat Warren Buffett darauf hingewiesen, dass Finanzinstrumente "Massenvernichtungswaffen" seien.
Vor allem weil Finanzgeschäfte nahezu ausschließlich per Computer getätigt werden und Einzelne zu gewaltigen Manipulationen in der Lage sind.
Stimmt. Der Fall des Spekulanten Jérôme Kerviel bei der Société Générale zeigte allerdings neben dem individuellen Einfluss die kollektive Ignoranz - es gab 74 belegte Warnungen im Vorfeld. Es lag also nicht an mangelndem Risikomanagement, sondern vermutlich einmal mehr an Gier.
Abstrakt formuliert: Als post-postmoderne Gesellschaft arbeiten wir - Medien wie Wissenschaft - an der Dekonstruktion von Systemvertrauen. Und wir tun das, indem wir Komplexität, die wir nicht durchschauen, ignorieren oder verdecken. Doch was uns helfen sollte, macht uns unsicher - und führt dazu, dass wir auf die steigende Komplexität mit noch komplexeren Finanzprodukten reagieren müssen. Die Haltung gegenüber dem Kapitalmarkt ist längst nicht mehr: "Super! Läuft doch alles", sondern eher: "Gut, ich kann niemandem trauen, verstehe es auch nicht im Detail - aber ich muss trotzdem irgendwie weitermachen."
Was wozu führt?
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