Mark Jacob drückte ein kleines Börsianerproblem. Der 23jährige aus dem kalifornischen El Segundo hatte auf fallende Kurse der IT-Firma Emulex gesetzt. Doch die Aktien stiegen und stiegen – Jacobs Put-Optionen drohten wertlos zu werden. So beschloß der Jungspekulant, seinem Glück nachzuhelfen. Er entwarf eine fiktive Pressemitteilung, in der Emulex angeblich eine Gewinnwarnung aussprach und außerdem Bilanzmanipulationen andeutete. Der Chef des Unternehmens sei zurückgetreten, hieß es in der getürkten Mitteilung.
Das Emulex-Gerücht mag ein besonders krasses Beispiel dafür sein, wie skrupellose Spekulanten mit Falschmeldungen gezielt Aktienkurse manipulieren – ein Einzelfall ist es nicht. Untypisch an diesem Fall ist lediglich, daß der Urheber der Falschmeldung rasch gefunden, verhaftet und wegen Kapitalanlagebetrugs angeklagt wurde. Allein an den deutschen Börsen kursieren pro Jahr hunderte von Gerüchten, die vollkommen gegenstandslos sind, die aber nichtsdestoweniger die Aktienkurse beträchtlich beeinflussen und damit das Vermögen der Anleger vermehren oder vermindern können. Trotz ihrer enormen Bedeutung sind Börsengerüchte wissenschaftlich bislang kaum erforscht. In der Bundesrepublik haben nun erstmals Finanzwirtschaftler der TU Chemnitz unter Leitung von Professor Friedrich Thießen die Entstehung, Verbreitung und Wirkung von Falschmeldungen über Aktiengesellschaften empirisch untersucht. Ergebnis: An den Finanzmärkten findet offenbar ein hochorgani sierter, effizient betriebener Handel mit Gerüchten statt. Von dem Geschäft profitieren überwiegend die großen Marktteilnehmer, die in der Regel als erste informiert sind und am schnellsten reagieren können. Den Kleinanlegern rät Thießen daher bei nicht nachprüfbaren Börsengerüchten zu "äußerster Vorsicht".
Um genau herauszufinden, wie dubiose Nachrichten den Börsenhandel beeinflussen, haben die Wissenschaftler 139 Gerüchte analysiert, über die der Nachrichtendienst VWD binnen eines Jahres berichtete. Ausgewählt wurden nur Meldungen, die DAX- und MDAX-Unternehmen betrafen und die den Handel nachweislich beeinflußten. Wer rasch genug kauft oder verkauft, kann mit einer Falschmeldung viel Geld verdienen beziehungsweise sich vor kräftigen Verlusten schützen. Im Durchschnitt haben die untersuchten Gerüchte die Kurse um zwei bis drei Prozent bewegt. So bricht in den Handelssälen regelmäßig hektische Betriebsamkeit aus, wenn ein für glaubwürdig erachtetes Gerücht die Runde macht. Besonders extreme Fälle gar nicht mitgerechnet, liegen die Tagesumsätze bei den betroffenen Aktien um 46 bis 87 Prozent höher als zu normalen Zeiten. "Wenn es das Ziel von Gerüchte-Emittenten sein sollte, Bewegung in den Markt zu bringen, um mehr Umsatz zu erzielen, dann gelingt ihnen dies tatsächlich gut", sagt Thießen. Besonders stark beachten Börsianer Gerüchte über drohende Verluste oder sinkende Erträge.
Werden solche angeblichen Gewinnwarnungen geglaubt, bricht der Kurs des betroffenen Unternehmens im Mittel um fünf Prozent ein. Ähnlich nervös reagieren die Anleger auf Meldungen über Bilanzmanipulationen. Umgekehrt treiben Spekulationen über eine bevorstehende Übernahme die Aktienkurse im Schnitt um drei Prozent nach oben. Verhältnismäßig geringen Einfluß haben Gerüchte über Kapitalmaßnahmen, Paketverkäufe von Großaktionären oder eine geplante Reorganisation.
Mehr als ein Drittel der Falschmeldungen, die Thießens Team unter die Lupe nahm, betraf Banken, Versicherer und andere Finanzdienstleister. Hier waren die Folgen für die Kurse auch besonders groß. Dagegen hatte nicht einmal ein Fünftel aller Gerüchte Autowerte zum Ziel – obschon diese Industrie hierzulande in der Wirtschaft und auch an der Börse eine besonders prominente Rolle spielt. Praktisch gar nicht betroffen waren Maschinenbau, Nahrungsmittel- und Versorgerbranche. Warum sie ausgespart werden, vermag auch Gerüchteforscher Thießen nicht zu erklären.
Im Einzelfall können Gerüchte für die Wertentwicklung einer Aktie dramatische Folgen haben. So fanden die Forscher im Jahr 2002 allein elf Gerüchte, die den Heidelberger Finanzdienstleister MLP betrafen. Das Unternehmen betreibe eine allzu kreative Buchführung und habe die Bilanz durch diesen und jenen nicht ganz einwandfreien Deal aufgehübscht, hieß es.
Die Gerüchte waren zwar nicht wirklich stimmig und konnten später weitgehend entkräftet werden. Dennoch trieben sie den MLP-Kurs Zug um Zug in die Tiefe. Ingesamt verzeichnete die Aktie 2002 einen Verlust von 90 Prozent. Davon trat der allergrößte Teil, nämlich 69 Prozentpunkte, an den elf Tagen auf, als Gerüchte für miese Stimmung bei den Aktionären sorgten. MLP hatte freilich bereits vor der Gerüchtewelle aus durchaus gerechtfertigten Gründen bei vielen Anlegern an Sympathie verloren. Die Falschmeldungen beschleunigten lediglich den Absturz des überbewerteten Papiers. Ungeachtet solch spektakulärer Fälle sind die meisten Falschmeldungen folgenlos. "Rund 80 bis 90 Prozent aller Gerüchte werden von den Marktteilnehmern überhaupt nicht beachtet", sagt Thießen. Dies sind vor allem phantasielose Standardmeldungen, etwa, daß ein Großaktionär sich von seiner Beteiligung trennen oder zukaufen wolle. Dergleichen haben Börsianer schon zu oft gehört.
Drei Bedingungen muß eine Falschmeldung erfüllen, damit sie für plausibel gehalten wird: Der Inhalt muß neu sein; aufgewärmte Gerüchte verpuffen wirkungslos. Sie muß überdies ziemlich spektakulär sein; nur wenn Anleger leicht ausrechnen können, wie eine Meldung die Ertragslage eines Unternehmens beeinflussen könnte, sind sie bereit, daraufhin zu handeln. Vor allem aber muß ein Gerücht auf den geistigen Radarschirm eines Händlers passen: Falschmeldungen werden besonders gern dann geglaubt, wenn sie bereits kursierende Ängste, Befürchtungen und Einschätzungen zu bestätigen scheinen. Wird etwa die Pharmaindustrie oder die Telekom-Branche mal wieder von einer Fusionswelle überrollt, dann hält die Börse jede weitere Übernahmespekulation nur zu gern für glaubwürdig.
Börsenprofis wissen natürlich, daß die meisten Gerüchte exakt nichts anderes sind als eben dies: bloße Gerüchte. Sie achten daher sehr genau, aus welcher Quelle die Spekulationen kommen. Marktteilnehmer, die gern mal eine kleine falsche Erfolgsmeldung ausstreuen, um den Wert ihrer eigenen Aktienpositionen ein wenig anzuheben, handeln sich rasch den Ruf ein, andere Börsianer bewußt in die Irre zu führen. Wer den Markt wirksam manipulieren will, darf dieses Instrument nicht allzu oft gebrauchen. Doch woher stammen die Gerüchte? Wer setzt Falschme! ldungen in Umlauf, um seinen Schnitt zu machen? Die eigentlichen Quellen konnte das Forscherteam naturgemäß nicht ausfindig machen. Doch eine zentrale Rolle bei der Verbreitung spielen offenbar die Börsenmakler, die auch zu Zeiten des elektronischen Handels noch wichtige Aufgaben haben, beispielsweise als Market Maker. Ein Makler verdient nur dann, wenn er Aufträge bekommt und Umsatzprovisionen einstreichen kann. So besteht für ihn ein großer Anreiz, ein Gerücht, so dünn es sein mag, ein klein wenig aufzublasen und an die Händler weiterzugeben. "Mit Gerüchten kann man beim Kunden glänzen", sagt einer der von Thießen befragten Händler. Tauchen Gerüchte auf, mit denen sich der Markt bewegen läßt, wird so mancher Makler blitzschnell aktiv. Der Reihe nach ruft er seine Kunden an und berichtet, was er gehört hat. "Da ist ein Gerücht im Markt. Ich gehe davon aus, daß es falsch ist, aber es ist halt da. Seht zu, ob ihr was macht", lautet eine beliebte Formulierung, mit der sich Makler vor dem Verdacht schützen wollen, bewußt zu manipulieren. Natürli ch streitet jeder ab, mit solch dubiosen Methoden zu arbeiten. Und Banken und Händler beteiligen sich ebenfalls gern an Spekulationen, wenn es dabei etwas zu verdienen gibt. Doch Makler gehören offenbar zu den wichtigsten Vermittlern von Börsengerüchten, wie Professor Thießen herausgefunden hat.
Von den beteiligten Maklern werden Gerüchte meist über zwei, höchstens drei Stationen weitergeleitet, nämlich über die Händler und Banken zu den Kunden. "Die Informationskaskade der Gerüchte entpuppt sich als eine professionell, rational und effizient organisierte kurze Kette von Vermittlungsstellen, die dafür sorgt, daß Nachrichten vom Zentrum der Märkte schnell an die Peripherie gelangen", resümiert Thießen.
Bevorzugt leiten die Akteure Gerüchte an wichtige Kunden weiter, also etwa Großbanken. Denn dort sind am ehesten Großorders zu erwarten, mit denen sich schöne Provisionen verdienen lassen. Die kleineren Marktteilnehmer wissen hingegen: Wenn sie von Gerüchten erfahren, ist es meist schon zu spät. Die Informationen sind an der Börse längst durchgehandelt. Genau aus diesem Grund rät Professor Thießen privaten Investoren entschieden zu Zurückhaltung: "Die Kleinanleger sollten Gerüchte gar nicht beachten, sondern langfristige Anlagestrategien verfolgen."
Gruß Moya