Jeder Achte würde lieber die Pille nehmen als sich impfen lassen:
HINTERGRUND-Corona-Pille ist kein Ersatz für Impfstoffe
- von Julie Steenhuysen
Chicago, 10. Nov (Reuters) - Eine Pille zur Behandlung von Covid-19 weckt derzeit Hoffnungen auf eine schnellere Überwindung der Pandemie. Doch Experten warnen davor, dass die in vielen Ländern zuletzt ins Stocken geratenen Impfkampagnen dadurch noch weiter behindert werden könnten. Covid-Medikamente von Pharmakonzernen wie Pfizer und Merck seien nur ein weiteres Instrument im Werkzeugkasten und kein Ersatz für Impfungen, betonen Ärzte und Vertreter von Pharmaunternehmen.
"Die Medikamente gehen Hand in Hand mit Impfungen. Sie ersetzen sie nicht", sagt Leana Wen, Notärztin und Professorin für öffentliche Gesundheit an der George Washington University und ehemalige Gesundheitskommissarin von Baltimore. Vor allem in Amerika wächst die Sorge, dass die noch ungeimpften Menschen darauf setzen, dass die Corona-Pille sie vor schlimmeren Verläufen schützt. In den USA sind laut einer Studie der Kaiser-Family-Stiftung 72 Prozent der Erwachsenen einmal geimpft, die Zahl der doppelt Geimpften ist niedriger als in vielen anderen Ländern. Eine von der US-Regierung geplante Impfpflicht für einen Großteil der Arbeitnehmer in den USA hat die Impfraten zwar erhöht, ist aber auch Wasser auf die Mühlen der Impfgegner.
Pfizer selbst sieht die Pille nur als Ergänzung im Kampf gegen die Pandemie. Sich nicht impfen zu lassen, sei ein tragischer Fehler, sagt Firmenchef Albert Bourla. "Das ist ein Medikament zur Behandlung für diejenigen, die krank werden." Die Pille solle kein Grund sein, sich nicht impfen zu lassen.
MEDIKAMENTE KÖNNTEN NOCH DIESES JAHR VERFÜGBAR SEIN
Erste Ergebnisse einer Umfrage unter 3000 Bürgern der City University of New York (CUNY) hätten ergeben, dass sich jeder achte Befragte lieber mit einer Corona-Pille behandeln lassen möchte, als sich impfen zu lassen, sagt Scott Ratzan, Experte für Gesundheitskommunikation und Leiter der Studie. "Das ist eine hohe Zahl." Pfizer teilte am Freitag mit, das Risiko lebensgefährlicher Verläufe der Lungenkrankheit Covid-19 habe sich bei dafür anfälligen Erwachsenen um 89 Prozent verringert, wenn sie die Arznei einnehmen.[nL8N2RW5DT] Die USA und Großbritannien reservierten sich bereits Millionen Einheiten des Medikaments, obwohl es noch nicht offiziell zugelassen ist.
Auch der Rivale Merck entwickelte ein ähnliches Mittel, das nach ersten Studienergebnissen aber weniger wirksam ist. Es soll Krankenhausaufenthalte und Todesfälle um die Hälfte verringern und erhielt in der vergangenen Woche in Großbritannien die bedingte Zulassung. In den USA könnten beide Arzneien noch dieses Jahr auf den Markt kommen.
Der Mainzer Pfizer-Partner BioNTech , der den erfolgreichen Covid-19 Impfstoff Comirnaty entwickelt hat, warnt davor, dass das Virus eventuell eine Resistenz gegen die Wirkstoffe in den Tabletten bilden könnte. "Wir wissen, dass einzelne Behandlungen mit Inhibitoren bei Viruserkrankungen oft zur Entwicklung von Resistenzen führen", sagt Vorstandschef Ugur Sahin. "Wir müssen abwarten und sehen, wie sie Impfstoffe ergänzen."
Sechs von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Experten für Infektionskrankheiten zeigten sich in Umfragen begeistert von der Aussicht auf wirksame neue Behandlungen für Covid-19. Sie waren sich aber einig, dass solche Pillen kein Ersatz für Impfstoffe sind. Das Pfizer-Medikament wird in Kombination mit einem älteren antiviralen Mittel namens Ritonavir verabreicht. Die Kombinationsbehandlung mit dem Markennamen Paxlovid besteht aus drei Tabletten, die zweimal täglich eingenommen werden müssen. Das Medikament, das zu einer Klasse von Proteasehemmern gehört, soll ein Enzym blockieren, das das Coronavirus zur Vermehrung benötigt. Die Merck-Pille Molnupiravir hat einen anderen Wirkmechanismus, der darauf abzielt, Fehler in den Gencode des Virus einzuschleusen.
PILLE WIRKT NUR IM FRÜHEN STADIUM
Ein Nachteil der Pille ist nach Einschätzung von Experten, dass sie schon in einem frühen Erkrankungsstadium eingenommen werden muss. Sobald ein Patient Symptome wie Kurzatmigkeit bekomme, die zu einem Krankenhausaufenthalt führen könnten, befinde sich der Körper in einer dysfunktionalen Immunphase, in der antivirale Medikamente keinen großen Nutzen hätten, sagt Celine Gounder, Expertin für Infektionskrankheiten und Chefin von Just Human Productions, einer gemeinnützigen Multimedia-Organisation.
Peter Hotez, Impfstoffexperte und Professor für Molekulare Virologie und Mikrobiologie am Baylor College of Medicine, teilt diese Einschätzung. Es sei oft eine Herausforderung, Patienten früh genug zu behandeln, da das Zeitfenster, in dem das Virus von der Vermehrungsphase in die Entzündungsphase übergeht, fließend sei. "Bei manchen passiert das früher, bei anderen später." Viele Menschen fühlten sich in dieser frühen Phase gut und wiesen kaum Symptome auf. Ihnen sei nicht bewusst, dass ihre Sauerstoffwerte abfielen, was ein Zeichen sei für ein bereits fortgeschrittenes Stadium von Covid-19. "Oftmals merkt man erst, dass man krank wird, wenn es zu spät ist."
(Mitarbeit von Josephine Mason, Deena Beasley, Manojna Maddipatla, Ludwig Burger,geschrieben von Patricia Uhlig, redigiert von Patricia Weiß. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 030 2201 33711 für Politik und Konjunktur oder 030 2201 33702 für Unternehmen und Märkte)
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Quelle: u.a. www.nw.de/nachrichten/wissenschaft/...xperten-dazu-sagen.html