Ich melde mich auch mal zu Wort hier, obwohl ich nicht (höchstens indirekt) investiert bin/war. Ich hatte leider erst mit DAX-Aufstieg von Wirecard gehört und mich bislang nie so intensiv mit dieser Firma befasst. Es ist aber immerhin einer der größten Wirtschaftskrimis der deutschen Neuzeit. Ich denke hier sind Emotionen aktuell sehr stark, viele Leute haben große Verluste gemacht. Allen, bei denen es nicht nur um ein bisschen Zockergeld ging, haben mein Mitgefühl. Ich bin geschockt über das kollektive Versagen der Aufsichtsbehörden, der Prüfer, des Unternehmens selbst, aber auch der Börsenaufsicht.
Klar kann man sagen, wer so viel auf eine Karte setzt ist doof. Stimmt auch ein Stück weit. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Bei einem DAX-Unternehmen kann und muss man in meinen Augen nicht mit so drastischen Fällen rechnen. Trotzdem muss man streuen. Das tut weh, man hofft, dass alles nur ein Albtraum war, und man am nächsten Tag aufwacht und alles so ist wie zuvor. Das passiert aber nicht. Jetzt irgendwelche riskante Zocks zu machen um die Verluste reinzuholen reitet einen nur noch weiter rein. Am Ende muss man damit irgendwie fertig werden, es ist "nur" Geld. Lasst nicht zu, dass euch diese Sache auf die Gesundheit oder das Verhältnis zu Familie und Freunden durchschlägt.
Übrigens, wenn ich die alten Beiträge von LILALAUNE oder wie der User hieß sehe, da stand doch, dass die HERKUNFT der Mittel auf Treuhandkonten ungeklärt ist, und daher das Testat verweigert werden könnte. Das ist ja schonmal was ganz anderes, als dass das Geld einfach weg und unauffindbar ist.
Nun aber zum Inhalt. Ich sehe hier noch nicht alles verloren. Zunächst einmal ist da Houlihan Lokey, von denen ich durchaus etwas halte. Die prominenten Fälle die hier als Referenzen genannt werden wie Steinhoff oder Enron sind ein kleiner Teil deren Kundschaft und Projekte. Die haben durchaus ein gewisses Vertrauen in der Branche auch bei institutionellen Anlegern und würden sich ihren Ruf nicht ruinieren, in dem sie dafür sorgen, dass am Ende irgendein Schneeballsystem neue Kredite bekommt.
Hier gibts einige weitere Projekte von denen: hl.com/about-us/transactions/?location=europe-middle-east
WENN also nun eine solche Firma mit den kreditgebenden Banken zusammensetzt und ein tragfähiges Konzept erarbeitet, dann gehe ich auch davon aus, dass im Hintergrund die Ertragsstärke und das Geschäftsmodell im Rahmen einer due-dilligence-Prüfung geprüft wird. Es geht erstmal darum Vertrauen zurückzugewinnen und dann dementsprechend zu schauen, welche Optionen man für die Restrukturierung der Firma hat. Es würde aber sicherlich nicht dazu kommen, dass am Ende weitere Banken Geld nachschießen, wenn der Kaiser am Ende gar keine Kleider an hat und es gar keine erfolgreiche Unternehmung gibt. Ich würde also eine Einigung mit den Banken als starkes Signal sehen, dass der Kern des Geschäfts intakt ist. Ob es eine Einigung gibt, ist freilich noch nicht klar. Ich gehe aber davon aus, dass der Austausch des Vorstands, die Einbeziehung eines externen Strukturierers, und die ganz klare Transparenz und Kooperation gegenüber den Regulierungsbehörden und Banken nun ein wichtiger Schritt sind.
Zu den Schwächen muss man sagen, dass es hier ein altes Management gab, dass zwar Visionär aber Chaotisch war. Einen DAX-Konzern kann man eben nicht wie ein Start-Up führen. Dazu gehört auch, dass man seine Handelspartner mit Blick auf Compliance und Zuverlässigkeit prüft, und dass man in vielen Stellen im Prozess ausreichend Checks und Rückkopplungen einbaut, um Fehler zu vermeiden oder aufzudecken. Und dass man jederzeit weiß, wo sein Geld ist, allein schon aus Compliance-Gründen. Wenn am Ende Sachen wie Kinderarbeit, Zwangsprostitution, Umweltverseuchung, Unterstützung von Warlords und Terroristen und wer weiß was mit Wirecard-Geld betrieben wurden, wäre das für die Firma schon schlimm genug, daher muss man jederzeit sicherstellen, dass seine Handelspartner einwandfrei, zuverlässig und transparent sind. Das alles ist scheinbar unterlassen worden. Das Management gehört dementsprechend ausgetauscht (was zum Teil ja grade gemacht wird/wurde).
Die Frage ist nun, inwiefern das Kerngeschäft noch steht. Neukunden dürften bei den ganzen Schlagzeilen ohnehin schwer zu finden sein, von daher ist die Wachstumsaussicht auch nicht besonders groß, sofern sich das ganze nicht schnell aufklärt. Es sei denn man hat wirklich Kampfpreise oder ein überlegenes Produkt, was ich aktuell nicht einschätzen kann. Ich hoffe, dass gegenüber dem Kunden erstmal alle Zahlungsprozesse weiter gut funktionieren, möglichst business-as-usal, damit bestehende Kunden nicht in die Situation gebracht werden, Verträge kündigen zu müssen/können. Da muss man einfach auf Zeit spielen und schnellstmöglich Vertrauen wieder aufbauen.
Persönlich glaube ich nicht daran, dass alles nur eine große Betrugsnummer war. Ich denke, dass sich mit dem Austausch des Managements und mit der neuen Finanzierungsstruktur in Zusammenarbeit mit Experten und Banken vieles aufdecken lässt und in die richtigen Wege leiten lässt. Der neue CEO wird sicherlich nicht Kopf eines Schneeballsystems, der wird sich sicherlich auch durch die Bücher gefressen haben bevor er das Engagement annimmt.
Wenn, und das ist für mich die wesentliche Frage, nicht schon zu viel struktureller Schaden im Unternehmen entstanden ist, sprich die Insolvenz durch Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit droht, dadurch dass das Geschäftsmodell einbricht, die Banken Kredite sofort fällig stellen, oder aber Kreditzinsen, Klagen und andere Kosten zu groß sind, dann gehts erstmal weiter. Und dann kommts natürlich drauf an, wo nun die 1,9 Milliarden Euro hin sind, ob sich ein Teil davon wieder beschaffen lässt, und was die weiteren Ermittlungen des Managements ergeben.
Die Zeit spielt momentan erstmal für Wirecard, denn sowohl seit dem Bilanzstichtag (01/20-06/20) wurde vermutlich weiter Geld verdient, als auch kommt täglich neuer Gewinn dazu, da das Unternehmen zumindest augenscheinlich operativ profitabel ist. Ich glaube nicht, dass die Story schon zu Ende ist, aber es wird wohl auch im optimistischen Fall keine Kurse über 100 Euro mehr geben. Zumindest nicht die nächsten 2-3 Jahre. Dafür gab es zu viele Scherben.