Industriestaaten als Ausgangspunkt einer globalen Finanzkrise?
Angesichts der Weltwirtschaftskrise von 1929, in der sich von den USA aus eine Krise weltweit ausgebreitet hat, muss diskutiert werden, inwiefern die oben angeführte Argumentation sich auch auf Krisen anwenden lässt, die in den etablierten Industrienationen ihren Anfang nehmen. Dies gilt insbesondere, da die jüngste Krise des amerikanischen Immobiliensektors einige deutsche Banken überraschend schwer getroffen hat.
Entscheidend für die bisherige Argumentation ist, dass die originären Krisenländer auf den internationalen Kreditmärkten primär nicht als Gläubiger auftreten, sondern als Schuldner. Wenn Kapital im Rahmen einer Krise eher umgeschichtet als dem Kapitalmarkt entzogen wird, kann dies nur zu einer globalen Krise führen, wenn Geld dorthin fließt, wo bereits problematische Entwicklungen aufgetreten sind, ohne diese Entwicklungen stoppen zu können. Das kann passieren, wenn ein Gläubigerland zu den ersten betroffenen Ländern gehört und in Folge der Krise Auslandsforderungen zur Stabilisierung der heimischen Wirtschaft repatriiert.
Genau dies dürfte der zentrale Unterschied zwischen den Krisen der 1990er Jahre und der Weltwirtschaftskrise sein. Als die US-Märkte 1929 zusammenbrachen, war das Ausstrahlen der Krise grundlegend anders als in allen regionalen Krisen, die in den 1990er Jahren aufgetreten sind. Während Ansteckung in den 1990er Jahren primär darin bestand, dass die Kreditgeber der Krisenländer ihre Kredite auch aus anderen Ländern der betroffenen Region abgezogen haben, um sie anderen Finanzmärkten zuzuführen, haben in den 1930er Jahren die USA Gelder abgezogen, um heimische Probleme zu lösen. Dies konnte die USA nicht stabilisieren, hat aber die anderen großen Volkswirtschaften in die Krise verwickelt. Eine solche Entwicklung ist heute fast ausgeschlossen. Kaum ein einzelnes Land hat für die heutige Weltwirtschaft genug Bedeutung, um eine weltweite Finanzmarktkrise auszulösen. Selbst wenn nur das Größenkriterium betrachtet wird, wären die USA und die Europäische Union, die jeweils ca. ein Viertel der weltweiten Produktion herstellen, die einzig denkbare Keimzelle einer weltweiten Krise.
Die USA allerdings sind heute - anders als bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise - nicht Nettogläubiger, sondern Nettoschuldner. Sie haben jedoch aufgrund ihrer einzigartigen Vernetzung mit der übrigen Weltwirtschaft und ihrer herausragenden Bedeutung als Bruttogläubiger eine Ausnahmestellung inne. So sind die Auslandsinvestitionen von Anlegern aus den USA durchaus erheblich. Dabei treten die USA gegenüber zahlreichen Emerging Economies mehr als Gläubiger denn als Schuldner auf.
Folgendes Ansteckungsszenario wäre daher hypothetisch denkbar. Die USA erleiden durch heimische Ursachen eine Krise. Die Probleme führen zur Repatriierung von Kapital aus den Schuldnernationen der USA, die ihrerseits nicht mit Abzug von Kapital aus den USA reagieren können. Der Kapitalabzug aus den US-Schuldnernationen verleitet andere Nationen, die diesen Kapitalabzug auf Probleme in den Schuldnernationen zurückführen, im Sinn einer Signal-Extraktion ebenfalls zu einem Kapitalabzug aus diesen Nationen. Ein solches Szenario ist allerdings in der heutigen Welt unwahrscheinlich.
Ein Abzug von US-Kapital aus den Schuldnernationen der USA würde von den Gläubigernationen der USA nicht verstärkt, sondern eher kompensiert. Die Informationslage bezüglich der USA ist hervorragend. Informationsdefizite sind aber der wesentliche Grund für Signal-Extraktion. Es sind die falsch extrahierten Informationen, die Ansteckungseffekten primär zugrunde liegen. Angesichts der Informationslage bezüglich der USA wäre diese Problematik hier nicht gegeben. Der Kapitalabzug der USA im oben geschilderten Szenario ist durch US-Probleme begründet. Und eine Fehleinschätzung der Lage ist aufgrund der verfügbaren Informationen unwahrscheinlich. D. h., es kann kaum davon ausgegangen werden, dass der Kapitalabzug der USA als Folge von Problemen in den Schuldnernationen gesehen wird.
Plausibel wäre dann, wenn überhaupt, ein Abzug von Kapital aus den USA, um dieses vor den Konsequenzen der US-Krise zu schützen. Die Schuldner der USA dürften von diesen Portfoliorestrukturierungen der Gläubiger der USA eher profitieren. Denn bei Kapitalabzug aus den USA bieten sich eben jene Nationen als Investitionsort an, die durch den Kapitalabzug der USA vorher belastet wurden. Gegen weiteren Kapitalabzug aus den betreffenden Ländern und für einen Kapitalzufluß spricht, dass der erfolgte Verkauf von Assets ohne fundamentale Gründe im Rahmen des Kapitalabzugs durch die USA dazu führt, dass die Assets unter Wert gehandelt werden, und somit für andere Anleger durch überdurchschnittlich hohe Renditen interessant werden. Selbst die USA sind also durch ihre Rolle als Schuldner, in ihrem Potential als Krisenauslöser stark eingeschränkt.
Bedrohliche Konsequenzen einer Finanzmarktkrise aus den USA ergeben sich allerdings, da denkbar ist, dass einzelne Finanzintermediäre in anderen Industriestaaten sich in ihren Anlagen so stark auf die USA konzentrieren, dass eine US-Krise für sie existenzbedrohend sein kann. So hat die Immobilienkrise in den USA auch in Deutschland einige Banken, insbesondere die Industriebank IKB und die Sächsische Landesbank, stark in Mitleidenschaft gezogen. Auffällig ist dabei, dass hier kaum rein private Banken, sondern öffentliche Banken oder Privatbanken mit öffentlichen Großaktionären betroffen sind. Die mangelnde Risikoabsicherung scheint also kein generelles Kapitalmarktproblem zu sein, sondern ist ein Ausdruck der staatlichen Absicherung.
Bedrohlicher als die Bankenprobleme an sich war die Beunruhigung anderer Banken, die aufgrund der offenbarten Mängel ihre wechselseitigen kurzfristigen Kredite stark reduziert haben. Ein Liquiditätsmangel kann allerdings durch die Zentralbank über die Bereitstellung kurzfristiger Liquidität für die Banken ausgeglichen werden. Eine tatsächliche Krisenübertragung fand daher nur sehr begrenzt statt, so dass schon kurz nach der beginnenden Krise in den USA in der Presse teilweise von der "angeblichen Bankenkrise in Deutschland" gesprochen wurde.[11]
Auch der zunächst stark reagierende Aktienmarkt stabilisierte sich nach wenigen Tagen. Angesichts der außergewöhnlichen Entwicklung der Vormonate, die ohnehin für Nervosität an den Aktienmärkten gesorgt hat, wäre es verfehlt, hier von Ansteckung zu sprechen.
Die eventuelle Gefahr einer weltweiten Krise, die durch die USA ausgelöst wird, erwächst nicht aus finanzieller Ansteckung, sondern aus der Tatsache, dass die USA allein groß genug sind, dass im Falle eines ernsthaften Zusammenbruchs reale Spillover-Effekte weltweit deutlich spürbar sein dürften. Allerdings hat der Einbruch der New Economy gezeigt, dass die USA mittlerweile eine ökonomische Reife erreicht haben, die es erlaubt, Finanzmarktschwierigkeiten ohne nachhaltige Schwächung zu überstehen.