Dax-Ausblick: Neue Rutschpartie droht
Sieht der Dax wieder sein bisheriges Jahrestief unter 6 200 Punkten? Einige Analysten halten dies nicht für ausgeschlossen, wenn der deutsche Leitindex weiter sinkt. Beobachter machen eine große Unsicherheit am Markt aus: Niemand kann zuverlässig einschätzen, wohin die Konjunktur tendiert.
HB FRANKFURT. Seit 20 Jahren gibt es den Deutschen Aktien-Index. Doch zum Feiern dürfte den meisten Börsianern in der neuen Woche kaum zumute sein. Die schwache Kursentwicklung an den Aktienmärkten trübt die Party zum Dax-Geburtstag. Den feiert die Deutsche Börse zusammen mit Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und den Vorstandschefs einer ganzen Reihe von Dax-Unternehmen am Dienstag mit einem halbstündigen kleinen Festakt vor Börsenbeginn.
Der Kursrutsch des Leitindex in den vergangenen Monaten bietet kein günstiges Umfeld für ein rauschendes Fest. Bis zu drei Prozent auf zeitweise 6 350 Punkte hat der Dax in der ablaufenden Woche eingebüßt. Damit stand er am Freitag rund 20 Prozent niedriger als vor einem halben Jahr. Stimmungstöter sind weiterhin die Finanzkrise, die Rekordjagd beim Öl und der starke Euro.
"Es fällt einem schon schwer, in dieser Lage Optimismus zu versprühen", sagt NordLB-Analyst Tobias Basse. "Die Haltezone nach unten haben wir verlassen", konstatiert Helaba-Analyst Christian Schmidt. "Das im März erreichte Jahrestief von 6 167 Punkten dürfte nächste Woche zur Disposition stehen." Postbank-Analyst Heinz-Gerd Sonnenschein pflichtete ihm bei: "Der Dax hat eher Potenzial nach unten als noch oben."
Schwere Zeiten dürften also dem deutschen Aktienmarkt in den kommenden Wochen bevorstehen. Wirtschafts- und Unternehmensdaten gibt es kaum; und wenn, werden sie höchstens in ihrer negativen Variante wahrgenommen. Die schlechte Stimmung der Analysten hängt vor allem mit der unsicheren konjunkturellen Entwicklung dies- und jenseits des Atlantiks zusammen.
Viele Signale aus der Realwelt haben die Anleger enttäuscht: So überraschte Sony Ericsson am Freitag mit einer Gewinnwarnung für den Handybereich. Damit mehren sich die Zeichen, dass eine Markt-Unterstützung durch den Konsum nicht mehr zu erwarten ist. Dies hatte bereits der schwache GfK-Konsumklimaindex avisiert. Aber auch die reinen Konjunktur-Frühindikatoren der Wirtschaft sehen nunmehr düster aus: Das Geschäftsklima der Eurozone im Juni fiel auf den tiefsten Stand seit November 2005. Zudem brachen Industrie- und Verbrauchervertrauen regelrecht ein.
Mit Argusaugen schauen die Anleger insbesondere auf die weitere Entwicklung des Ölpreises. "Das ist momentan ein reiner Ölmarkt", urteilten Aktienhändler im Wochenverlauf. Jeder US-Dollar mehr pro Barrel werde den Druck auf Aktien erhöhen. "Wahrscheinlich müssen wir schon kommende oder nächste Woche mit 160 bis 170 US-Dollar pro Fass rechnen", glauben Aktienhändler. Ihre Prognose beruht auch auf Einschätzungen des Opec-Präsidenten Chakib Chelil. Seiner Meinung nach könnte der Preis im Sommer auf bis zu 150 bis 170 Dollar je Fass steigen.
"Der Ölpreis bereitet vielen Notenbankern schlaflose Nächte", sagt NordLB-Analyst Basse. Viele Börsianer hatten ursprünglich darauf gesetzt, dass mit der Konjunkturabschwächung in den USA - dem größten Benzinschlucker der Welt - der Ölpreis nachgeben würde. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Mit über 141 Dollar notierte er am Freitag so hoch wie nie zuvor. Für Aktienkäufe fehlen in dieser Lage die Argumente.
Düstere Aussichten
In vielen Aktienbranchen sieht es derzeit eher trübe aus: Von der Ölpreis-Entwicklung besonders betroffen ist die Autoindustrie. Nun drücken auch ihre Aktien auf den Markt. Neben dem Finanzsektor wird auch diese Branche jetzt als möglicher Krisenherd ausgemacht. Vor allem die Zukunft der US-Werte macht Beobachtern Sorgen. So lasteten zeitweise Gerüchte über fehlende Liquidität oder sogar einen möglichen Gläubigerschutz von Chrysler auf den Branchenwerten. Selbst Dementis aus Detroit konnten den Verfall der Aktien nicht stoppen.
Die Mischung aus endlosem Ölpreis-Anstieg und schlechter Konsumlaune sei Gift für die Autobranche, sagen Händler. Für die US-Firmen gehe es aufgrund der Verkaufseinbrüche bei den margenstarken "Benzinfressern" sogar ums Überleben. Die US-Absatzzahlen im Juni dürften daher die Kurse stark in Bewegung bringen. Sie stehen am Dienstag an.
Bei den Banken und Finanzwerten könnte der Hang zum gegenseitigen "Abschlachten" weiter anhalten. So kam es im Wochenverlauf zu einer wahren Verkaufswelle bei den globalen Finanzwerten, nachdem Goldman Sachs die US-Handelshäuser heruntergestuft hatte. Citigroup, Merrill Lynch und andere reagierten darauf ebenfalls mit Abstufungen anderer Institute oder warnten vor erneutem Abschreibungsbedarf bei der Konkurrenz. So hieß es von der Citigroup zur bislang relativ unbeschadeten Deutschen Bank, dass Investoren, Regulierungsbehörde und Rating-Agenturen das Institut in Richtung einer Kapitalerhöhung drängen werden. Zudem überraschte die belgisch-niederländische Fortis mit einer unangekündigten Kapitalerhöhung. Solche Nachrichten erzeugten massive Vertrauensverluste, sagen Aktienstrategen.
Der Goldman Sachs-Studie wird in dieser Abstufungs-Runde besondere Aufmerksamkeit zugemessen. Denn das Investmenthaus gilt als einziger US-Broker, der die Kreditkrise mit einem "blauen Auge" überstanden hat. Dadurch kommt der Stimme des Hauses ein großes Gewicht in der Branche zu. Bevor sich in dem Sektor die Unruhe nicht legt, dürfte sich auch der Gesamtmarkt nicht erholen, vermuten Beobachter.
Ob die Summe der Hiobsbotschaften einen richtigen Crash auslösen kann, sei dahingestellt. Viele Händler halten die Absicherungsquote der Anleger dafür zu hoch; die Belastungsfaktoren sind zudem bekannt. Ein Crash sei nur Ausdruck einer echten Überraschung, sagen Aktienstrategen. Aktuelle Studien der UBS zum Umfang der Leerverkäufe lassen ebenfalls ein Crash-Szenario als weniger wahrscheinlich erscheinen. Das so genannte "Short Interest" hat demnach stark zugenommen. Es liege mittlerweile bei jeder sechsten Aktie aus dem marktbreiten S&P500-Index über zehn Prozent der jeweils ausstehenden Aktien. Bei Banken und Konsumgüterherstellern liege es teils sogar über 30 Prozent. Händler schließen daraus, dass jede dritte Aktie, die heute verkauft wird, in nächster Zeit wieder zurückgekauft werden muss - was wiederum den Markt stützen würde.
Ein weiteres Abrutschen der Kurse, ein scheibchenweiser "Salami"-Absturz quasi, ist jedoch nicht auszuschließen, wie bereits die Entwicklung in den zurückliegenden Tagen zeigte. Im Wochenverlauf hat sich das Bild wesentlich verschlechtert: Technische Analysten verweisen auf eine Schulter-Kopf-Schulter-Formation im Stoxx-600-Index. Dieser marktbreite Index ist ein Barometer für den Kursverlauf aller europäischen Standardwerte; er signalisiert nun einen Fortgang der Baisse. Das Abwärtspotenzial dieser langfristigen und verlässlichen Formation hat demnach ein Minuspotenzial von rund 21 Prozent. Für den Dax würde das bedeuten, dass er bis Jahresende auf rund 5 100 zurückfallen könnte.
"Insgesamt bleiben die Kapitalmärkte in einer sehr angespannten Verfassung", meinen auch die Börsenexperten des Stuttgarter Bankhauses Ellwanger & Geiger. Daran würden die leichten Gegenbewegungen nichts ändern. "Entscheidend wäre nun, dass die amerikanischen und asiatischen Aktienmärkte mit einer Gegenbewegung aufwarten können, um die Europäer aus ihrer stringenten Abwartehaltung zu befreien", schreiben die Aktienstrategen in ihrer aktuellen "Marktmeinung aus Stuttgart". Denkbar wäre nach ihrer Ansicht auch, dass aufgrund des anstehenden Halbjahresendes viele institutionelle Anleger die Kurse kurzfristig nach oben setzen, um in der Halbjahresperformance nicht ganz so schlecht dazustehen. Unterm Strich gehen die Stuttgarter "unverändert von einer großen Schwankungsbreite aus".
Termine der kommenden Woche
Im Fokus werden in der kommenden Woche zahlreiche Preis- und Konjunkturdaten stehen. Am Montag wird die erste Schätzung der Juni-Verbraucherpreise in Europa veröffentlicht. Analysten befürchten hier "eine Vier...oder mehr" vor dem Komma. Eine Anhebung des Leitzinses in der Euro-Zone am Donnerstag um 0,25 Prozent auf 4,25 Prozent gilt daher an den Märkten als ausgemachte Sache. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet werde sich im Anschluss an die Entscheidung alle Optionen offenhalten - "eben auch auf einen weiteren Schritt nach oben im Herbst", sagen die Marktbeobachter der Commerzbank voraus. Damit dürften weitere Inflations- und Zinserhöhungssorgen die Aktienmärkte drücken.
Mit Beginn von Trichets Pressekonferenz (14.30 Uhr MESZ) stehen am Donnerstag auch die US-Arbeitsmarktdaten für Juni an, die wegen des Unabhängigkeitsfeiertages am Freitag einen Tag früher als üblich veröffentlicht werden. Von der Agentur Reuters befragte Analysten rechnen mit einem weiteren Stellenabbau in der weltgrößten Volkswirtschaft, was sich negativ auf den Konsum niederschlagen würde.
Zu Wochenbeginn werden auch die ISM-Einkaufsmanagerindizes sowie die Auftragseingänge für die US-Industrie erwartet. "Sie haben alle eher Enttäuschungspotenzial", sagt Helaba-Analyst Schmidt. Am Dienstag sind die Augen der Marktteilnehmer auf die US-Autoverkäufe im Juni und den ISM-Index für das verarbeitende US-Gewerbe gerichtet. Der Mittwoch steht im Zeichen der US-Rohöllagerbestände. Am Donnerstag steht neben der Zinsentscheidung der EZB der ISM-Index für das nicht-verarbeitende Gewerbe auf der Agenda. Am Freitag dürfte dann Ruhe auch in Europa einkehren, wenn die US-Bürger ihren Nationalfeiertag begehen. Dort sind die Börsen dann geschlossen.
Handdelsblatt 27.06.08 19.49 Uhr