Sanierer und Liberalisierer haben in der Berliner Politik nicht mehr viel zu melden. Sie haben zu oft gesiegt.
Es gibt wenig, was Peer Steinbrück einschüchtert, und amerikanische Ökonomen gehören ganz sicher nicht dazu. Aber für einen Moment verschlug es ihm die Sprache, als er sich kürzlich bei einem Harvard-Besuch anhören musste, er, der Sozialdemokrat, vertraue dem Staat nicht genug. Die Regierung müsse mehr Geld ausgeben, statt zu sparen. Früher hätte man aus Amerika immer das Gegenteil gehört, beschwerte sich der mögliche Kanzlerkandidat.
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Drei Vierteln der Bevölkerung geht es mithin sehr gut. Die Liberalisierungspolitik hat ihnen viel gebracht. Das ist auch das Problem: Ein Viertel fehlt.
Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet zu einem Niedriglohn.
Jedes fünfte Kleinkind wächst in Armut auf.
Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger geht nur langsam zurück.
Die OECD sagt voraus, dass die Zahl der armen Rentner in Deutschland schneller steigen wird als in anderen westlichen Ländern.
Dieser letzte Punkt ist zentral. Denn dahinter steht die Annahme, dass sich an der heutigen Situation nicht viel ändern wird. Mehrere Millionen Deutsche haben geringe Aufstiegschancen. Sie haben wenig Möglichkeiten, fürs Alter vorzusorgen. An den Erfolgen der deutschen Wirtschaft werden diese Menschen vor allem über Sozialleistungen teilhaben. Auf Jahrzehnte hinaus. Die Not dieses prekären Viertels – manchmal ist auch von einem Fünftel die Rede – sieht auch die Bundesregierung. Deshalb will Sozialministerin Ursula von der Leyen eine steuerfinanzierte Zuschussrente für Menschen einführen, die 35 Jahre lang ihre Beiträge eingezahlt haben, aber im Alter nicht über das Hartz-IV-Niveau hinauskommen. Deshalb mutet die Kanzlerin ihrer Partei einen Mindestlohn zu.
Daraus wie das Handelsblatt den Schluss zu ziehen, aus CDU und SPD bilde sich eine linke Einheitspartei, führt jedoch in die Irre. Links ist der falsche Begriff. Die Problemfelder haben sich verändert. Vor zwanzig Jahren war das Arbeitsrecht erstarrt, das Land hatte sich mit der strukturellen Arbeitslosigkeit arrangiert, und die Konzerne drohten die Globalisierung zu verschlafen. Es ging also um den Wohlstand der Mehrheit, und die Liberalisierer hatten die richtigen Rezepte gegen den Abstieg. Ihr Irrtum war: Sie gingen davon aus, alle würden davon profitieren, auch die am unteren Rand der Gesellschaft, nur später. Eine zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen schien die Voraussetzung zu sein.
Die jüngere Geschichte hat sie widerlegt.
Für ein Viertel der Bevölkerung braucht es andere Rezepte, damit mehr Arme den Aufstieg schaffen. Doch Regierung und Opposition machen nur die einfachste Variante von Kümmerpolitik: Sie verteilen Geld. Es fehlt der zweite, unbequemere Teil. Da, wo es wehtut, wo der Konfliktstoff mit Wählern lauert, da, wo der Bund die Arbeit machen würde und die Bundesländer profitieren würden, da langt niemand hin. Das Land interessiert sich in seiner momentanen Blüte zu wenig für die Probleme von morgen. Sonst würde es nicht nur über einen Mindestlohn debattieren, sondern mehr in Bildung für Hauptschüler und Kita-Plätze für Migrantenkinder investieren. Es würde das antiquierte Beamtensystem reformieren, bevor die Ausgaben für Pensionen viele Bundesländer erdrücken – damit auch die Alten von morgen bezahlbare Pflegeangebote finden.
http://www.zeit.de/2012/13/Reformen-Kuemmerer-Debatte/