Quelle: www.mopo.de (Berlin!)
Berlin
Geld für Atomausstieg reicht – vielleicht
Von Christian Kerl
Wirtschaftsminister Gabriel will mit Stresstest die Märkte beruhigen. Doch ob die Rechnung wirklich aufgeht, ist unklar
Berlin. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) gibt vorläufige Entwarnung für die Steuerzahler: Die vier großen Stromkonzerne in Deutschland haben offenbar doch genügend Geld, um die Milliardenkosten des Atomausstiegs zu bezahlen – damit reduziert sich das Risiko, dass am Ende der Staat für den AKW-Abriss und die Endlagerung des Atommülls einspringen muss. Dies ist das Ergebnis eines von Gabriel veranlassten Stresstests bei den Unternehmen RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Den Wirtschaftsprüferbericht ließ Gabriel am Sonnabend veröffentlichen, er selbst zeigte sich zufrieden: "Die Unternehmen sind in der Lage, die Kosten des Atomausstieg zu tragen." Daran hatte es zuletzt massive Zweifel gegeben – und ganz ausgeräumt sind sie auch weiterhin nicht, Gabriel plant deshalb schon gesetzliche Absicherungen.
Die AKW-Betreiber sind per Gesetz verpflichtet, die Kosten für den AKW-Abriss und die Atommülllagerung selbst zu bezahlen. Sie haben dafür in ihren Bilanzen Rückstellungen von 38,3 Milliarden Euro gebildet. Gabriel hat nun auf Rat von Experten prüfen lassen, ob die Rückstellungen überhaupt korrekt berechnet sind, ob die Vermögenswerte tatsächlich ausreichen – schließlich fallen die nicht genau zu kalkulierenden Kosten für das Ende der Atomenergie größtenteils erst an, wenn die Konzerne kein Geld mehr mit Atomstrom verdienen. Droht dann das böse Erwachen?
Die Wirtschaftsprüfer attestieren den Unternehmen ein regelgerechtes Vorgehen, auch die Verzinsung sei korrekt berechnet. Die Unternehmen seien – zusammen betrachtet – "in der Lage, ihre atomrechtlichen Entsorgungsverpflichtungen zu erfüllen". Allerdings muss das nicht heißen, dass dies auch für jedes einzelne Unternehmen gilt, die Daten dazu hält das Ministerium aus wettbewerbsrechtlichen Gründen unter Verschluss. Bis 2099, so die Einschätzung, würden die Einnahmen der Unternehmen die Entsorgungsausgaben abdecken. Und die Gutachter verweisen auf ein Reinvermögen der vier Konzerne von 83 Milliarden Euro – das würde selbst im schlimmsten angenommenen Fall reichen, um die Folgelasten der Atom-Ära zu bezahlen.
Ob die Rechnung aufgeht, weiß allerdings niemand: Die Geschäftsaussichten der Konzerne sind getrübt, die Prüfer räumen "naturgemäß große Unsicherheiten" ein. Sie halten aber die Entsorgungskostenschätzung von rund 47,5 Milliarden Euro für plausibel, ohne sie im Detail untersucht zu haben. Knapp 20 Milliarden Euro sind für den Rückbau der 23 Atomkraftwerke eingeplant, zwölf Milliarden für die Atommüllendlagerung und etwa 15 Milliarden für Zwischenlagerung und Transporte.
Allerdings räumen die Wirtschaftsprüfer ein, dass die Sache auch viel teurer werden kann. So sind für das Endlager für hoch radioaktiven Atommüll nur etwa acht Milliarden veranschlagt, deutlich weniger als für vergleichbare Projekte in den USA, Japan oder Frankreich. Die Experten haben sechs Szenarien mit unterschiedlichen Zinssätzen und möglichen Kostensteigerungen durchgerechnet: Danach müssen die Rückstellungen je nach Annahmen zwischen 30 und 77 Milliarden Euro betragen – allerdings unterstellt das Worst-Case-Szenario dauerhaft hohe Verluste der Unternehmen, was bislang als unwahrscheinlich gilt.
Dennoch hatten erste Berichte, dass die Versorger im schlimmsten Fall bis zu 40 Milliarden Euro zu wenig zurückgestellt hätten, vor drei Wochen zu heftigen Kurseinbrüchen bei den Aktien von Eon und RWE geführt. Das Wirtschaftsministerium erhofft sich von dem Prüfergebnis jetzt eine Beruhigung der Finanzmärkte, auch das erklärt die offizielle, optimistische Interpretation.
Für die Unternehmen gibt es indes keine Entwarnung: Schon nächste Woche will Gabriel vom Bundeskabinett einen Gesetzentwurf absegnen lassen, der verhindern soll, dass sich die Energiekonzerne durch die Abtrennung ihrer Atomtöchter vor der Haftung drücken können. Vattenfall hat sein Atomgeschäft bereits ausgegliedert, Eon hat entsprechende Pläne wegen Gabriels Gesetzesinitiative kürzlich wieder fallen lassen. "Eltern haften für ihre Kinder", beschreibt Gabriel das Prinzip, für das er allerdings noch Widerstand in Teilen der Union überwinden muss.
Zugleich wird das Kabinett am Mittwoch eine Expertenkommission berufen, die auf Basis der Stresstestergebnisse bis Anfang 2016 klären soll, wie die Rückstellungen der Konzerne gesichert werden können, etwa für den Fall einer Insolvenz. Ein Gutachten im Auftrag Gabriels hatte da voriges Jahr vor erheblichen Risiken gewarnt.
Als Chefs der Kommission sind die ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) und Klaus Töpfer (CDU) im Gespräch. Gedacht wird daran, für die langfristigen Verpflichtungen einen öffentlich-rechtlichen Fonds einzurichten, für kurzfristige Aufgaben wie den AKW-Rückbau auch unternehmensinterne Fonds.
Eine Gratwanderung: Werden die Fonds zu schnell aufgebaut, droht den Unternehmen die Pleite. Die Konzerne selbst hatten bereits eine Stiftung vorgeschlagen, in der sie ihre AKW und die Rückstellungen einbringen würden – sie wären dann mit einem Schlag viele Sorgen los. Doch politisch durchsetzbar ist das nicht. Gabriel sagt: "Es muss klar sein, dass sich kein Konzern aus seiner Verantwortung stehlen kann."