Von Andrea Masüger
Schaut man sich die bisher gesprochenen Urteile des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien an, so findet man neben vielen Freisprüchen Strafen zwischen drei und 35 Jahren. Sie wurden ausgesprochen für Mörder, für Vergewaltiger, für Organisatoren von Massakern und für Politführer, die zum Völkermord aufgerufen haben. Wie viele Jahre hätte Slobodan Milosevic erhalten, wenn er nicht vor dem Urteil gestorben wäre? 40 Jahre, 50 Jahre? Und mit welchem Urteil müsste Adolf Hitler rechnen, stünde er heute von einem internationalen Kriegsverberbrechertribunal? 70 Jahre? 100 Jahre?
Bernard Madoff hat am vergangenen Montag 150 Jahre kassiert. Sein Verbrechen: Er hat mit einem gigantischen finanziellen Schneeballsystem 65 Milliarden Dollar in den Sand gesetzt und Dutzende wirtschaftliche Existenzen zerstört. Umgebracht hat er niemand, es sei denn, man taxiere den Suizid eines Mannes, der seine ganzen Milliarden in das Madoff-System gesteckt hat, als Mord. Dennoch wurde Madoff ungleich härter bestraft als alle Schänder von Witwen und Waisen, als alle Volksverhetzer und Kriegstreiber in unserer modernen Welt je bestraft werden.
Das Madoff-Urteil ist ein Stellvertreter- oder ein Sündenbock-Urteil. In ihm kommt die ganze Frustration einer Gesellschaft zum Ausdruck, die in ihrer Geldgier Dinge tat, die dem gesunden Menschenverstand diametral widersprechen. Eine Gesellschaft, welche das primitive Muster von Schneeballsystemen zur Genüge kennen musste, aber trotzdem glaubte, ein einziger Mann allein könne mit seinen Anlagevehikeln immer und ewig Renditen erwirtschaften. Die begeisterten Madoff-Jünger haben jahrelang alle Warnsignale in den Wind geschlagen und ihr ökonomisches Hirn systematisch ausgeschaltet. Ihre grenzenlose Empörung gegenüber dem Zirkusdirektor in der magischen Finanzarena ist nichts anderes als die auf Madoff projizierte Wut auf das eigene Versagen und auf das eigene Unvermögen.
Im Gerichtssaal haben einige Geschädigte in hysterischen Anfällen Madoff die schlimmsten Dinge gewünscht, Martertod, Hölle und Verdammnis. Das Christentum verzeiht Mördern, beim Geld aber versteht es keinen Spass.
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