21. Aug 2008: Rezession - Talsohle noch längst nicht erreicht
Nachdem die Aktienbullen zuletzt dem Motto nachgelaufen sind, die Wirtschaft stabilisiere sich (und es könne nur besser werden), gab es zu Wochenbeginn empfindliche Kursrückschläge. Entsprechende fundamentale Bestätigungen hierfür blieben nämlich weiterhin aus - Widrigkeiten eben. Schon melden sich Beobachter, die den fallenden Ölpreis als Zeichen für einen weitergehenden wirtschaftlichen Abschwung interpretieren. Zuletzt war bullischer Konsens, dass die Verbilligung beim Öl die Wirtschaft stützt.
Also war die Kreditkrise mal wieder nicht länger zu übersehen, insbesondere Finanzaktien kamen erneut unter Druck. Jetzt wird darauf hin "gezockt", dass Fannie Mae und Freddie Mac komplett vom Staat übernommen werden. Da andere bullische Signale fehlen, würde man das umgehend als ein solches umsetzen und die Kreditkrise zunächst zu den Akten legen.
Ist der fallende Ölpreis gut für die Wirtschaft oder schlecht? Das eine ist so richtig wie das andere. Es kommt auf das übergeordnete Bild an: Fällt die Wirtschaft in eine Rezession, kann ein schwacher Ölpreis die Talfahrt zwar verlangsamen, umkehren wird er die Richtung nicht. Ist die Wirtschaft dabei, sich zu stabilisieren, kann ein niedriger Ölpreis helfen, diese Phase vor einem neuerlichen Aufschwung abzukürzen. Wächst die Wirtschaft solide, wird ein in Maßen steigender Ölpreis den Aufschwung nicht abwürgen. Und so nimmt die bullische Spekulation einen hohen Ölpreis sogar gerne als Beleg für einen anhaltenden Boom, wie in den zurückliegenden Hausse-Jahren gesehen.
David A. Rosenberg von Merrill Lynch hat sich mit der Frage befasst, ob vielleicht die Sohle des Rezessions-Tals erreicht ist. Seine klare Antwort: Wir sind wahrscheinlich nicht einmal auf der halben Wegstrecke. Demzufolge glaubt er auch nicht, dass der S&P 500 aus fundamentaler Sicht bisher nur annähernd ein belastbares Tief gesehen hat. Dasselbe gelte auch für die Entwicklung der langfristigen Anleihezinsen, schreibt er. 300-Punkte-Tages-Rallyes im Dow seien Kennzeichen eines Bär-Marktes, der Widerhall einer Rezession. Solche Bewegungen gebe es in Bull-Märkten nicht, schon gar nicht in gehäufter Form.
Laut offizieller Lesart haben wir aktuell keine Rezession in den USA. Die klassische Definition setzt zwei Quartale in Folge mit negativem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) voraus. Das für das vierte Quartal 2007 wurde im nachhinein zwar auf minus 0,2 Prozent revidiert, aber das des ersten und den zweiten Quartals diesen Jahres sind positiv - bis jetzt jedenfalls. Rosenberg sieht die offizielle Definition als zu akademisch an, als Volkswirt müsse man mit zeitnäheren Kriterien arbeiten. Wenn schließlich offiziell eine Rezession ausgerufen wird, sei das Wesentliche schon geschehen, ja, es sei sogar eher ein Signal, dass das Schlimmste vorbei ist. Zudem wird das Bild zusätzlich dadurch verzerrt, dass ein Fünftel des BIP auf staatliche Aktivitäten zurückgeht, da könnte sich die Ausrufung einer Rezession noch stärker verzögern.
Vier den Konjunkturzyklus stark prägende und eng mit dem BIP korrelierte Faktoren sind es laut Rosenberg, die zeitnah Auskunft über das Vorliegen einer Rezession geben. Der erste ist die Beschäftigung. Sie geht nun bereits den siebten Monat in Folge zurück. In der Datengeschichte der vergangenen 60 Jahre gab es keinen Fall, wo es bei einer solchen Entwicklung der Beschäftigung keine Rezession klassischer Lesart gab. Die Industrieproduktion ist die zweite wichtige Variable. Sie zeigt mittlerweile im Vergleich zum Vorjahr kein Wachstum mehr, der Trend ist abwärts gerichtet. Die dritte Variable ist das Realeinkommen abzüglich staatlicher Transferleistungen. Es geht nun den vierten Monat in Folge zurück. Die vierte Variable sind die realen Umsätze in Produktion und Handel, die als einzige Größe direkt in das die Ausgaben der Wirtschaftsgruppen fokussierende BIP eingehen.
Nachdem diese vier Faktoren alle zwischen Oktober 2007 und Februar 2008 ein Hoch ausgebildet und die Richtung gewechselt haben, taxiert Rosenberg den Start der Rezession auf Januar 2008. Das passt perfekt zum Doppel-Topp des S&P 500 einige Monate vorher, nämlich im Oktober 2007. Das Ende der Rezession wird vom Analyst auf Mitte 2009 veranschlagt, der fundamentale Boden könnte dabei im Februar oder März nächsten Jahres erreicht werden. Das wäre dann auch der Punkt, an dem S&P 500 sein Tief ausbilden dürfte, was wiederum dem historisch-statistischen Vorlauf entspricht.
Wo könnte der Boden des S&P 500 liegen? Rosenberg entwickelt die Frage vom KGV aus. Er taxiert die Unternehmensgewinne im S&P 500 für das erste Quartal 2009 auf 63 Dollar. Üblicherweise beträgt das KGV im S&P 500 in einem Rezessionstief 12. Das ergäbe einen Indexstand von gut 750. Rosenberg: "There is a good chance we test the 2002 lows."
Anders gerechnet: Die Unternehmensgewinne lagen vor dem Beginn der aktuellen Rezession bei 14 Prozent des BIP, aktuell liegt der Wert noch bei 12 Prozent. Im Verlauf der Rezession findet erfahrungsgemäß eine Reduktion um rund 25 Prozent gegenüber dem Wert im Topp des Geschäftszyklus auf rund 7 Prozent Profit-Anteil am BIP statt. Dem entspricht auch ein mittlerer Kursrückgang im Verlauf einer "normalen" Rezession um ein Viertel. 7 Prozent als "Zielvorgabe" sind im Vergleich zu den 14 Prozent jedoch ein Rückgang um 50 Prozent, also eine Halbierung gegenüber dem Wert vor Beginn der Rezession. Das ist nicht unplausibel, geht doch ein großer Teil der starken Gewinnentwicklung der vergangenen Jahre auf die extrem hohen Hebel im Finanzbereich zurück. Das Ergebnis wäre eine Halbierung des S&P 500 von seinem Topp bei 1560 aus.
Übergeordnet sieht der Analyst uns in einem säkularen Bär-Markt, der im Jahre 2000 begann (ich fühle mich an den Kondratieff-Winter erinnert, dessen Beginn sich ebenfalls da festmachen lässt). Er vergleicht die Situation mit 1929, 1955, bzw. 1966 und 1982. Das einzige Finanzmarkt-Segment mit einer über zehn Jahre inflationsbereinigt negativen Performance ist der S&P 500. Die Hausse zwischen 2003 und 2007 war demzufolge lediglich ein zyklischer Bull-Markt im Rahmen des säkularen Bär-Marktes, wobei die Hälfte dieser Haussebewegung auf die nie da gewesenen Hebel im Finanzbereich zurückgehe. Die aktuelle Phase am Aktienmarkt klassifiziert Rosenberg als zyklischen Bär-Markt im säkularen Bär-Markt.
Nach dem Platzen der Technologie-Blase, gefolgt vom Platzen der Hauspreisblase, der wiederum die Kreditblase folgte: Was sind die Kriterien für eine positive Wende?
Rosenberg zeigt drei Punkte auf: Die Sparquote muss auf acht Prozent steigen, auf Werte wie in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Im vergangenen Jahr war sie kurz unter Null gefallen, das erste Mal seit den 1920ern. Es hatte sich eine Mentalität breit gemacht, dass man vom eigenen Vermögen werde den Lebensabend bestreiten könne - Vorsorge, gleich Sparen, sei überflüssig. Nun deflationieren diese Vermögensgegenstände, was nebenbei gesagt, generell desinflationierend wirkt. Zweitens: Die "Lagerreichweite" bei Wohnungen und Häusern muss unter acht Monate sinken. Gegenwärtig liegt sie bei rund 17 Monaten, wenn man alles einrechnet, auch die Leerstände wegen Enteignung aufgrund nicht bedienter Darlehen. Drittens: Der Anteil der Zinszahlungen am Haushaltseinkommen muss auf 10,5 Prozent sinken, wie in den Nach-Rezessions-Jahren 1982 und 1992. Gegenwärtig liegt er mit 14,1 Prozent nahe dem Allzeithoch. Es hat bisher nie eine Rezession gegeben, bei der dieser Wert so hoch lag.
Um an die Soll-Marke der dritten Bedingung zu kommen, müssen zwei Bill. Dollar an Schulden der Haushalte verschwinden. Wie kann das gehen? Durch Bankrott oder Rückzahlung. In beiden Fällen ist die Konsequenz bezogen auf das Konsumverhalten Sparsamkeit. Es werden sprichwörtlich kleinere Brötchen gebacken. Volkswirtschaftlich gesehen, ist das jedoch nichts anderes als dass die Sparquote in die Höhe gezwungen wird, mit der schon oben erwähnten desinflationären Wirkung. (Hier schließt sich übrigens auch der Kreis zu Nouriel Roubini, der die gesamten Verluste aus der Finanzkrise auf bis zu eben jenen 2 Bill. Dollar veranschlagt.)
Wie reagierten die einzelnen Wirtschaftsgruppen auf das größte steuerliche Anreizprogramm aller Zeiten, dass die Amerikaner im zweiten Quartal mit gut 120 Mrd. Dollar beglückte? Rosenberg: Die Unternehmen haben ihre Lager um 62 Mrd. Dollar abgebaut und nach den jüngsten ISM-Zahlen zu urteilen, scheint das weiter zu gehen. Die Verbraucher nutzten die Mittel, um die Sparquote von 0,3 im ersten auf 2,6 Prozent im zweiten Quartal herauf zu treiben. Das ist immerhin der drittsteilste Anstieg in den vergangenen 55 Jahren. Auch das spricht (pessimistische) Bände hinsichtlich der Zukunftseinschätzungen von Unternehmen und Verbrauchern.
Kommt nach der Technologie-, der Hauspreis- und der Kreditblase nun die Bond-Blase? Nach Rosenberg sind Bonds mit dem Wachstum des nominalen BIP am deutlichsten korreliert, nicht mit dem Budget-Defizit, nicht mit dem Außenwert des Dollar, auch nicht mit dem Preisniveau der Rohstoffe. Da es in diesem Jahr um 4 Prozent zulegen dürfte, ist es kein Wunder, dass sich die Rendite der zehnjährigen Bonds auch bei rund 4 Prozent einpendelt. Der Analyst erwartet für 2009 ein Wachstum des BIP um nominal 1,5 Prozent, daher würde es ihn nicht überraschen, wenn die Rendite wieder zum Tief des Jahres 2003 im Juni bei gut drei Prozent zurückfindet. Das war schon einmal so, 1958.
Rosenberg verweist auf folgendes Prognose-Problem: Da zwar vieles früheren Wirtschaftsepisoden ähnelt, manches aber bei dieser Konsum-zentrierten Rezession auch mit dem Attributen "höchste", "schwerste", "größte" belegt ist, reichen die historischen Parallen nicht immer aus, um Vorhersagen zu stützen. Demzufolge ist die Unsicherheit besonders hoch.
Angesichts der Ölpreisschwäche warnt Rosenberg davor, dies als ein Zeichen einer bevorstehenden wirtschaftlichen Erholung zu interpretieren. Auch im Jahre 2000 habe es einen prozentual ähnlichen Preisverfall gegeben, was einige Analysten motiviert hat, ihre BIP-Schätzungen für das Folgejahr anzuheben. Der Grund für den Rückgang war aber der Nachfragerückgang aufgrund rezessiver Tendenzen, keine Angebotsausweitung. Insofern war das keine positive Botschaft, die von besseren Zeiten kündete. Das gelte damals wie heute, heißt es.
Insofern ist das Motto, an dem sich die Bullen zuletzt festgehalten hatten, eine eher kurzatmige Sicht der Dinge. Unter kurzfristigen Gesichtspunkten ist es gleichgültig, ob die Anlegergemeinde einem Popanz hinterher läuft. Übergeordnet lässt sich solch ein Verhalten aber gerade als Bestätigung dafür ansehen, dass wir uns in einem Bär-Markt bewegen.
Rohstoffe, insbesondere Öl und Edelmetalle dürften aktuell einen Zwischenboden ausgebildet haben und jetzt zunächst eine (vielleicht sogar heftige) bullische Reaktion vollführen - mit der Begleitmusik eines steigenden Euro/Dollar. Das machte fundamental immerhin den bullischen Fall plausibler, weil ein schwächerer Dollar für US-Produkte (insbesondere Technologie) bessere Absatzbedingungen auf den Weltmärkten bietet, was positiven Einfluss auf die Unternehmensgewinne hat. Und -siehe oben- steigende Rohstoffpreise lassen sich ja auch als Zeichen für eine Rückkehr wirtschaftlicher Aktivitäten interpretieren. Zunächst jedenfalls…