Mehr als 80 Vorfälle in zehn Jahren - Aber keiner stoppt die kriminelle Karriere eines jungen Palästinensers in Berlin
Von Dirk Banse
"Konsequente Inkonsequenz": So lautet die Überschrift zu einem Artikel in der Fachzeitschrift "Kriminalistik". Darin schildert der 35-jährige Kriminaloberrat Markus Henninger die kriminelle Karriere eines aus dem Libanon stammenden Palästinensers in Berlin und die Unfähigkeit der Justiz, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Der Mut des Inspektionsleiters für organisierte Kriminalität, das politisch brisante Thema anzufassen, hat nun zu heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit und für reichlich Diskussionsstoff bei Polizei und Justiz gesorgt.
Der Fall: Mahmoud (Name geändert), inzwischen 20 Jahre alt, kam als Achtjähriger mit seiner Familie nach Berlin. Seine Eltern waren zuvor bereits zweimal ausgewiesen worden, doch sie blieben hartnäckig. Mahmouds Mutter berichtete ihrem Sohn mit leuchtenden Augen: "In Deutschland kann man vom Boden Schokolade essen."
Die siebenköpfige Familie richtete sich, so ist es in der Fachzeitschrift nachzulesen, in einer Sechs-Zimmer-Wohnung in Neukölln ein und lebte von Sozialhilfe. Geld besorgte sich Mahmoud auf seine Weise: Er beraubte andere Kinder. Seit seinem zehnten Lebensjahr ist er der Berliner Polizei wegen fast 80 Vorfällen bekannt (Auszüge siehe Tabelle). Davon beging er etwa 60 Taten als Strafmündiger, das heißt, ab einem Alter von 14 Jahren.
"Wie ist es möglich, dass ein junger Gewalt-Intensivtäter seit seiner Strafmündigkeit von 60 der Polizei bekannt gewordenen und mit Verdachtsgrad belegten Straftatvorwürfen 52 Vorfälle während Bewährungszeit, Haftverschonung oder Haftzeit verursachen kann? Die zahlreichen Einstellungen, insbesondere während der Bewährungszeit, müssen wohl als Indiz für einen resignativen Umgang mit der Arbeitsüberlastung gewertet werden", schrieb Markus Henninger in der Fachzeitschrift.
Inzwischen sitzt Mahmoud hinter Gittern, weil er wieder geraubt hat. Doch immer wieder kam der 20-Jährige vorzeitig frei, könnte also schon bald wieder ins Visier der Berliner Polizei geraten. "Er ist eine tickende Zeitbombe", meint Michael Kuhr, Geschäftsführer des Sicherheitsdienstes "Kuhr Security", der den Schutz von zehn Berliner Diskotheken organisiert. Mahmoud und seine kriminellen Freunde machen laut Kuhr immer wieder Ärger in Diskotheken, verletzen Türsteher und drohen mit Gewalt und Mord. Sogar Polizisten und Justizbedienstete seien eingeschüchtert worden, hieß es gestern in Polizeikreisen.
Markus Henninger und seine Mitstreiter bleiben jedoch unbeeindruckt und gehen massiv gegen solche Kriminelle vor. Weit mehr als 100 von ihnen, dazu zählen Waffenhändler, Drogendealer und Erpresser, wurden bereits von der 2001 gegründeten Sondergruppe "Türsteher" beim Landeskriminalamt festgenommen. Henninger: "Falls uns jemand droht, bekommt er die gesamte Härte des Gesetzes zu spüren". Ob das die Justiz auch so sieht, bezweifeln aber viele Polizisten.
Das sagt der Sicherheitsexperte
"Dieser Mann ist gefährlich und ein Albtraum für Berlins Diskotheken-Besitzer", sagt Michael Kuhr vom Sicherheitsdienst "Kuhr Security" und meint damit Serientäter Mahmoud R. Er habe den 20-Jährigen des Öfteren vor und in den zehn Diskotheken erlebt, die von seiner Firma beschützt werden. "Er und seine Freunde bereiten uns immer wieder Ärger. Sie pöbeln Frauen an, beleidigen das Personal und werden gewalttätig. Ein Bekannter des Serientäters hat kürzlich auf unsere Türsteher eingestochen und sie schwer verletzt", berichtet Kuhr. Seine Firma arbeite schon seit längerer Zeit mit dem Landeskriminalamt zusammen, um mit Männern von Schlage Mahmouds fertig zu werden. "Ich habe sogar einige meiner Mitarbeiter dazu gebracht, vor Gericht auszusagen. Doch die Justiz machte nichts. Klar, dass der Frust tief sitzt. Diese Leute sind gefährlich, das müssen auch Richter und Staatsanwälte begreifen", sagt Kuhr. Dagegen zeigt er sich mit der Arbeit der Polizei zufrieden. "Die machen Druck auf die Szene. Das merken wir natürlich sofort. Einige dieser Kriminellen, die uns immer wieder Probleme bereitet hatten, sind abgetaucht", freut sich Kuhr. Grund zum Aufatmen gebe es aber nicht. "Bei den kriminellen Ausländern spricht sich doch ganz schnell herum, wenn einer von ihnen nur milde bestraft wurde. Angst vor der deutschen Justiz haben die wenigsten. Dabei ist es nun einmal so, dass uns vor allem Nichtdeutsche Probleme bereiten. Das hat nichts mit rechtem Gedankengut zu tun, im Gegenteil. Man muss doch die Dinge beim Namen nennen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass etwas vertuscht wird", erklärt der Sicherheitsexperte. Er spricht sich zudem dafür aus, die Zusammenarbeit privater Sicherheitsdienste mit der Polizei zu verstärken. "Viele Security-Firmen wollen die Probleme allein bewältigen. Doch das kann keine Lösung sein. Sie werden so nur Teil des kriminellen Milieus", prognostiziert Kuhr.
Das sagt die Justizsenatorin
Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) hat gestern zugesagt, den Vorwürfen nachzugehen. Sie nehme die Anschuldigungen der Polizei "sehr ernst" und habe sich sofort mit Innensenator Ehrhart Körting verständigt. "Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, dass sich die Behörden mit jugendlichen Intensivtätern besonders beschäftigen", sagte Schubert. Das gelte vor allem für strafunmündige Kinder. Bereits im Vorfeld müsse alles unternommen werden, damit gefährdete Jugendliche nicht kriminelle Karrieren einschlagen. Zusammen mit der Innenverwaltung werde der Fall jetzt eingehend geprüft. Am kommenden Montag soll es eine gemeinsame Sitzung der beiden Behörden geben, an der auch die Staatsanwaltschaft teilnimmt. Die Justizsenatorin verwies darauf, dass gerade bei jugendlichen und heranwachsenden Straftätern besondere Sorgfalt gelten müsse. Im Jugendstrafrecht hat das Erziehungsziel Vorrang vor dem Strafgedanken. Wenn sich herausstellt, dass in der Justiz Fehler begangen worden sind, werde das Konsequenzen haben, sagte Frau Schubert weiter. Die Staatsanwaltschaft wollte gestern nicht Stellung nehmen. Allerdings äußerten Ermittler Zweifel an der von der Polizei veröffentlichten Liste. Ein großer Teil der angeführten Ermittlungen sei eingestellt worden, weil sich der Verdacht gegen den jugendlichen Berliner nicht bestätigt habe. "Nicht alles, was ein Polizist aufschreibt, hält den Ermittlungen stand", sagte ein Ankläger. Die Polizei habe offenbar Informationen aus dem Polizeicomputer veröffentlicht, ohne dabei zu prüfen, was daraus im weiteren Verlauf geworden ist.
Das sagt der Kriminalist
Im Fall des 20-jährigen Serientäters drängt die Polizeiführung auf Gespräche mit der Justiz. Angeschoben hatte die Diskussion der Inspektionsleiter für Organisierte Kriminalität, Markus Henninger. In der Fachzeitschrift "Kriminalistik" schrieb er zu dem Fall: "Sicherlich dürften alle Beteiligten an irgendeiner Stelle im Verlauf und Fortgang dieser "kriminellen Karriere" ihren mehr oder minder großen Beitrag geleistet haben, sei es durch unzulängliches Meldeverhalten, nicht ausreichend geführte Ermittlungen oder mangelnde Kommunikation miteinander. Obgleich auch diese "Lebensgeschichte" auf erhebliche Systemfehler in den Verfahrensabläufen und Arbeitsmechanismen von Behörden und Justiz hindeuten mag, so ist sie jedoch nicht zuletzt das Ergebnis eines verbürokratisierten, verrechtlichten, ideologisierten und mit eklatanter Inkonsequenz wahrgenommenen Umgangs mit dem Straf- und Erziehungsgedanken, gesetzten Normen, verhängten Sanktionen und damit letztlich dem Recht selbst." Der 35 Jahre alte Kriminaloberrat, auch zuständig für Ermittlungen in der so genannten Türsteher-Szene, stellt Fragen. "Welches Bild von der Konsequenz und Durchschlagskraft der deutschen Sicherheitsbehörden und der Justiz muss bei Mahmoud entstanden sein? Wie viel zusätzliche Arbeit wurde durch die mangelhafte Strafvollstreckung den Sicherheitsbehörden und letztlich der völlig überlasteten Berliner Justiz aufgebürdet? Ist insbesondere die Überlastung der Jugendabteilungen der Staatsanwaltschaft aufgrund der massenhaften Einstellungen der Verfahren vielleicht zum Teil selbst verschuldet?"