Gefangen im Ghetto
Ausländische Jugendliche sind die Verlierer von morgen. Die Schule sieht hilflos zu
von Martin Spiewak
Ich bin mit mir selber stolz. Ich arbeiten mit einen Computer. Mir gefehlt diese Arbeit, weil es mir sbas macht." Metin stockt. "Sbas": Irgendetwas scheint mit diesem Wort nicht zu stimmen. Der Junge überlegt eine Weile, löscht das Wort und schreibt es neu: "... weil es mir schbas macht."
Meine glückliche Zukunft - so heißt das Thema der Stunde. Die Schüler sollen träumen, wie ihr Leben in 25 Jahren aussehen wird . Keine einfache Aufgabe für Metin. Buchstabe für Buchstabe tastet er sich am Bildschirm an seinen Zukunftstraum heran. Er möchte nicht so hart arbeiten wie sein Vater, der bei der Bahn "Schiene putzt", also Gleisarbeiter ist. Lieber "was mit buro". Mehmet, zwei Computer weiter, will Pilot werden, Ali Maschinenbauer*.
Doch wenn Allah nicht ein Wunder voll-bringt, werden die Jungen der Dortmunder Anne-Frank-Gesamtschule schnell merken, dass eine weit weniger glanzvolle Zukunft auf sie wartet. Bald kommen sie in die 9. Klasse. Aber Wortschatz und Rechtschreibung der meisten der 13-Jährigen entsprechen dem Niveau von Fünftklässlern. Groß- und Kleinschreibung, Artikel und Pluralendungen gehen wild durcheinander. Der Satzbau ist häufig schlicht wie der eines Grundschülers. Ausländerdeutsch eben.
Dabei kennen Metin und seine ausländischen Klassenkameraden das Land ihrer Väter, die Türkei, nur aus dem Urlaub. Sie sind Kinder der Dortmunder Nordstadt, geboren, aufgewachsen und zur Grundschule gegangen in Deutschland. Der eine oder andere hat bereits einen deutschen Pass. Genützt hat das scheinbar wenig. Selbst für einen durchschnittlichen Schulabschluss reichen die Sprachkenntnisse der meisten Schüler nicht aus.
Die Zahl der so genannten Bildungsverlierer unter den Migrantenkindern nimmt zu, in Dortmund wie in ganz Deutschland. Das war schon mal anders; lange Zeit zeigten alle Bildungsdaten von Schülern ausländischer Herkunft in eine positive Richtung. Immer weniger von ihnen verließen die Schule ohne Abschluss, die Zahl der Abiturienten ohne deutschen Pass stieg. Heute studieren doppelt soviele türkische Jugendliche an deutschen Universitäten wie noch vor zehn Jahren.
Die Schule als soziales Trampolin funktioniert - doch nur für einen kleinen Teil, und die Tendenz ist rückläufig. Die Anzahl ausländischer Hauptschüler ist im Schnitt noch immer fast dreimal so hoch wie die der deutschen. Bei den Gymnasiasten ist das Verhältnis umgekehrt. Dramatisch erscheint der Bildungsabsturz bei der größten Problemgruppe, den Schülern türkischer Herkunft: 40 Prozent von ihnen stehen nach der Schule ohne Ausbildungsplatz da - damit fast ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt (bei den deutschen sind es acht Prozent).
Die Kinder sprechen zum Teil schlechter Deutsch als ihre Eltern
Angesichts dieser Zahlen warnt der letzte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998 vor einem "Proletarisierungsprozeß", der langfristig den "inneren Frieden in Deutschland in Gefahr" bringen könnte. Der Anstieg der Jugendkriminalität in den vergangenen Jahren gilt Experten als Alarmzeichen. Sie geht, wie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in einer Studie herausfand, zum großen Teil auf das Konto junger Migranten.
In den meisten Fällen enden die verkorksten Bildungskarrieren nicht im Gefängnis, sondern auf den Fluren des Sozialamtes oder hinter der Theke eines Dönerladens. Sie beginnen aber fast immer in der Grundschule und mitunter noch früher. Metins Klassenlehrer, Nikolaus Schäfer, bemerkte vor zwei Jahren zum ersten Mal, dass die Sprachkenntnisse seiner Schüler nicht besser, sondern wieder schlechter werden. Vor wenigen Jahren noch hätten die Kinder die deutsche Sprache stets besser beherrscht als ihre Eltern, so der Pädagoge: "Heute ist es mitunter umgekehrt." Ein Sprachtest türkisch-deutscher Schulanfänger, den die Schulbehörde vor kurzem in Hamburg vorstellte, bestätigt ihn. Zwei Drittel der Kinder haben so große Deutschprobleme, dass sie ohne Förderung dem Unterricht nicht folgen können.
Besonders im Fachunterricht macht sich das Defizit bemerkbar - auch wenn die Migrantenkinder in der Umgangssprache den Ruhrpottslang perfekt beherrschen, können sie dem Unterrichtsstoff nicht folgen. Dem Lehrer fällt es manchmal nicht einmal auf, dass ein Text an den Schülern vorbeigeht. Die Folge: schlechte Noten nicht nur in Deutsch, sondern auch in Physik oder Biologie. "Nur wenn man gezielt nachfragt, merkt man, dass die nichts verstanden haben", sagt Schulleiterin Monika Conrad.
Wer die Dortmunder Nordstadt kennt, den wundert das nicht. Hier braucht man Deutsch allenfalls auf dem Arbeitsamt. Stärker als vor zehn Jahren leben die Ausländer unter sich. Der Trend, den Sozialwissenschaftler den "Rückzug in die eigene Ethnie" nennen, ist überall zu beobachten. Ob beim Lebensmittelhändler, im Fußballclub oder in der Moschee: man spricht Türkisch. Auch die sprachpädagogische Wirkung deutscher Quizsendungen oder Nachrichten ist passé. Heute sind die Satellitenschüsseln nach Istanbul gerichtet. Zwölf türkische Programme senden nach Almanya - Pädagogen sehen hierin einen Hauptgründe für abnehmende Deutschkenntnisse junger Türken.
Einst sorgte die Firma Hoesch in der Nordstadt für Brot, Wohnungen und dafür, dass Deutsche und Ausländer am Arbeitsplatz zusammenkamen. Heute haben die Stahlwerke ihre Produktion auf ein Minimum reduziert. Wer von den Deutschen einen neuen Job fand, zog weg. Geblieben sind Arbeitslose, Rentner und Ausländer. Die Nordstadt gilt als Türkenghetto und die Anne-Frank-Gesamtschule als Ghettoschule. 60 Prozent der Schüler sind Ausländer; ein Teil der restlichen Jungen und Mädchen hat erst seit kurzem den deutschen Pass.
In der großen Pause spielen Jungen mit dem Halbmond am Goldkettchen an ihren Handys, Mädchen blättern in einer türkischen Fernsehbeilage. Dazwischen die deutschen Lehrer, die meisten schon ergraut. Durchschnittlich 47 Jahre sind die Pädagogen an der Anne-Frank-Schule alt, und vom Alltag ihrer Schüler - der Musik, der Sprache, der Religion - wissen sie wenig. Sie fragen sich, warum immer mehr Mädchen mit Kopftuch zur Schule kommen, Jungen von Koranschulen berichten.
Die Anne-Frank-Schule ist bekannt dafür, dass ihr die Schüler nicht gleichgültig sind. Sogar Ex-Bundespräsident Roman Herzog war zu Besuch und hat sich angeschaut, was Lehrer, Schüler und Sozialarbeiter auf die Beine stellen: Es gibt eine Fahrradwerkstatt und einen Frühstücksraum. Ältere kümmern sich um die Neuzugänge, Streitschlichter unter den Schülern sorgen sich um den Klassenfrieden. Viele Lehrer kämpfen mit frusterprobtem Gleichmut gegen Unverständnis und Desinteresse und können nicht begreifen, warum die Zahl derjenigen, die den Hauptschulabschluss nicht schaffen, trotz aller Anstrengungen steigt.
Einen Schüler seiner 8.Klasse hat Nikolaus Schäfer heute mal wieder zu Hause angerufen. "Sonst kommt der nicht aus dem Bett." Groß und kräftig, ganz in Schwarz gekleidet, sitzt der 14-Jährige vor dem Computer und braucht eineinhalb Stunden für diese Erkenntnis: Er möchte gerne "Kapitalist werden und viele Frauen ficken". Den Rest der Zeit schaut er düster drein oder weist seine Klassenkameraden mit türkischen Worten zurecht. Bei einigen Lehrern müssen die Schüler für nichtdeutsche Worte im Unterricht Strafe bezahlen. Klassenlehrer Schäfer hat es aufgegeben, das Türkische zu verbieten. "Man kann nicht alles machen, sonst komme ich gar nicht mehr zum Unterrichten."
Welche Kettenreaktion von Empörung ein Schulleiter auslösen kann, wenn er in einem Elternbrief mitteilt, er möchte in der Schule "weder Russisch noch Türkisch hören" erfuhr Uwe Grintz, Direktor einer Realschule im nordrhein-westfälischen Spenge, im vergangenen Herbst. Die lokale Presse berichtete über das Schreiben, Bild pustete den Fall zum Skandal auf, Ankaras Korrespondenten rapportierten vom Schulhof - und deutsche Gutmenschen wie türkische Nationalisten hatten ihr Thema. Selbst die Bundesbildungsministerin erregte sich, dass "Kinder in unverantwortlicher Weise ausgegrenzt werden". Grintz, bekennender Alt-68er, sah sich als Rechtsradikaler gebrandmarkt. Dabei waren es die Lehrer nur leid, dass die Schüler sich über sie lustig machen und sie nichts verstehen. Wie "echte Machos" würden sich die ausländischen Jungen besonders gegenüber Lehrerinnen verhalten. "Die lassen sich von denen nichts sagen."
Längst sehen sich nicht nur Lehrer in Dortmund-Nordstadt, Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Wilhelmsburg mit den Schulschwierigkeiten ausländischer Kinder und Jugendlicher konfrontiert. Durch die Ansiedlung von Hunderttausenden Umsiedlerfamilien in Kleinstädten hat das Problem die Provinz erreicht. Mittlerweile, so die Essener Pädagogikprofessorin Ursula Boos-Nünning, haben 30 Prozent der Schüler einen "Migrationshintergrund": Kinder von Aussiedlern, Gastarbeitern, Flüchtlingen oder eingebürgerten Neudeutschen. "Die Schule aber hat darauf kaum reagiert." In der Bildungspolitik spielt das Thema keine Rolle.
Während seiner Hochschulausbildung erfährt kein angehender Lehrer, wie er eine Klasse unterrichten soll, die zur Hälfte aus Ausländern besteht. Von Lehrern aus Einwandererfamilien ist keine Hilfe zu erwarten - ihre Zahl tendiert an deutschen Schulen gegen null. Nur für den so genannten muttersprachlichen Unterricht haben die Schulbehörden türkische, griechische oder italienische Lehrer engagiert - wenn sie die Aufgabe nicht den Konsulaten der Heimatländer überlassen. Selten sind diese Lehrer ins Kollegium integriert, ihre Unterrichtsstunden kaum Teil des deutschen Lehrplans.
Ausländerpädagogik, kritisiert Boos-Nünning, wird bis heute von vielen als eine Art Sonderpädagogik verstanden, die sich von selbst überflüssig macht. Denn spätestens in der dritten Generation, so das ausländerpolitische Credo der Ära Kohl, wären die Kindeskinder der Gastarbeiter in die hiesige Gesellschaft eingepasst - oder ins Heimatland zurückgekehrt. Warum sollte sich die deutsche Schule ändern?
Viel zu spät erkennen Schulbehörden und Bildungspolitiker jetzt, dass sich die Integrationsprobleme nicht mit ein paar Projekten lösen lassen. Experten wie Boos-Nünning fordern einen grundlegenden Perspektivwechsel im Bildungswesen: Der gesamte Fächerkanon sollte sich darauf einrichten, dass das herkömmliche Schülerbild des deutschen Erziehungssystems - deutschsprachig, mit christlichem Hintergrund, aus intakter Familie - nicht mehr der Realität entspricht. Schulen mit einem hohen Ausländeranteil müssten wirkungsvolle Unterstützung erhalten. Konzepte allerdings, nach denen die ausländischen Kinder in Sonderklassen in ihrer Muttersprache hätten unterrichtet werden sollen, sind gescheitert. Das verstärkte nur ihre Isolation. Ebenso falsch erscheint das andere Extrem, sie von der ersten Stunde an nur mit Deutsch zu konfrontieren. Es kommt auf die richtige Mischung an. An manchen Schulen werden neue Ideen bereits erprobt:
- Bei der koordinierten Alphabetisierung (Koala) in Hessen sind die Deutschstunden und der muttersprachliche Unterricht aufeinander abgestimmt. Bringt der deutsche Lehrer den Kindern das "m" bei, ist der Buchstabe auch Thema im Unterricht des türkischen Kollegen.
- In den Berliner Europaschulen bestehen die Klassen zur Hälfte aus deutschen und ausländischen Kindern. Lesen und Schreiben lernen die Kinder in der eigenen Sprache, die anderen Unterrichtsfächer finden mal auf Deutsch und mal auf Türkisch oder Englisch statt.
- Kindergärten mit hohem Ausländeranteil beginnen schon vor der Einschulung mit gezielter Spracherziehung. In der interkulturellen Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt in Essen versucht ein Team aus deutschen und ausländischen Pädagogen mit Liedern und Spielen die deutsche wie die Elternsprache zu fördern. Symbole aus der Kultur der Kinder wie Wandteppiche oder arabische Schriftzeichen helfen, dass sich Kinder wie Eltern heimisch fühlen.
Eine Bildungsinstitution gibt die Probleme an die nächste weiter
Solche Modelle könnten auch für deutsche Kinder attraktiv sein. Bislang allerdings versuchen ihre Eltern, die Ausländerschulen zu meiden. Rückt die Einschulung näher, entdecken sie ihr Herz für die Kirche und schicken Tochter oder Sohn auf eine Konfessionsschule. Die Hälfte der Kinder der Dortmunder Graf-Konrad-Grundschule hat keinen deutschen Pass. Die katholische St.-Elisabeth-Schule in der Nachbarschaft ist so gut wie ausländerfrei.
Die Graf-Konrad-Schule erhält vom Schulamt nur anderthalb zusätzliche Lehrerstellen. Sie reichen gerade für eine Förderstunde pro Woche, in der Kinder den Stoff wiederholen und deutsche Vokabeln lernen. "Das ist ein Witz", klagt Schulleiter Dietmar Hirsch. "Bis zur 4. Klasse können wir die Sprachdefizite nicht ausgleichen." So gibt eine Ausbildungsinstitution ihre Probleme an die nächste weiter: der Kindergarten an die Grundschulen, die Grundschulen an die Haupt- oder Gesamtschulen und die wiederum an die Berufsschulen.
An der Graf-Konrad-Schule setzt man, ähnlich wie in Hamburg oder Berlin, jetzt dort an, wo die Versagenskette beginnt: in den Familien, genauer bei den Müttern. Denn Erziehung ist in der Türkei reine Frauensache. Seit Jahren aber verstärkt sich der Trend, dass ausländische Männer zum Heiraten in die alte Heimat fahren. Nach einer Berliner Erhebung sucht jeder zweite Türke dort seine Frau. "Damit beginnt die Migrationsgeschichte nach jeder Generation wieder neu", klagt Safter Cinar von der Türkischen Gemeinde Deutschland. Die Mütter können oft selbst nicht Lesen und Schreiben und sprechen kein Deutsch, ihre Kinder lernen es nicht.
Einmal die Woche kommen die Mütter mit ihren Kindern in den Unterricht und lernen Deutsch. Zugleich erfahren sie, wie das deutsche Bildungswesen funktioniert. In der türkischen Schulkultur legen die Lehrer auf die Mitarbeit der Eltern keinen Wert. Dort ist es nicht üblich, dass man zum Elternabend geht oder die Mutter Vokabeln abhört. Um die Unterstützung der Mütter zu gewinnen, verschicken die Schulämter in einigen Bundesländern Elternbriefe heute auch auf Türkisch oder Russisch.
Die Missverständnisse zwischen deutscher Schule und ausländischen Elternhäusern setzen sich fort bis zur Berufswahl, berichtet Sanem Kleff von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Viele Eltern glaubten, ihr Kind habe "das Abitur bereits in der Tasche, wenn es in die 10. Klasse kommt". In der Türkei nämlich sei es so. Sie ahnen nicht, dass ihr Sohn die Gesamtschule als "Parkplatz" benutzt, weil er nicht weiß, was er werden soll. Läuft es schief, hat er mit 19 Jahren gerade einen Hauptschulabschluss - der immer weniger zählt.
Früher fanden die Dortmunder Hauptschüler noch einen Ausbildungsplatz bei Hoesch als Dreher oder verdingten sich in der Fabrik am Fließband. Dreher werden nicht mehr ausgebildet, die Fließbandarbeiten machen heute Maschinen. Die Schere zwischen Ansprüchen des Arbeitsmarktes und Schulabschlüssen geht immer weiter auseinander: Die ausländischen Jugendlichen sitzen in der Falle.
Sie teilen das Schicksal mit deutschen Hauptschülern, mit denen sie um die knappen Ausbildungsplätze konkurrieren. Eine brisante Situation, die auf beiden Seiten Ressentiments schürt. Die Ausländerfeindlichkeit ist unter deutschen Bildungsverlierern, wie die jüngste Shell-Studie zeigt, besonders hoch. Ausländische Jugendliche wiederum geben für ihr Versagen dem "deutschen Rassismus" die Schuld. Wenn man die Schüler kritisiert, berichtet ein Lehrer der Dortmunder Anne-Frank-Schule, heiße es oft: "Ey, haben Sie was gegen Ausländer?"
© Die Zeit 16/2000