DAX 8600? Oder doch 4500? Die Prognosen der Strategen gehen extrem auseinander. Welche Schlüsse Anleger daraus ziehen können.
Von Sven Parplies
Börse extrem. Um knapp 17 Prozent legt der DAX innerhalb von nur zwei Monaten zu. Dann im Mai das abrupte Ende der Euphorie: Der deutsche Leitindex büßt innerhalb weniger Wochen über sieben Prozent ein. Schwergewichte wie Continental und Deutsche Börse verlieren sogar mehr als 20 Prozent ihrer Marktkapitalisierung.
Die Lagebeurteilungen der Börsenprofis sind dieser Tage genauso widersprüchlich wie die Kursausschläge. Geht es nach der DZ Bank, sind die schlimmsten Gefahren ausgestanden. "Die Bewertung des Aktienmarktes bleibt selbst bei einem nur geringen Gewinnanstieg günstig", erklären die Strategen und rufen als Kursziel für den DAX auf Sicht von zwölf Monaten 8300 Punkte aus. BNP Paribas ist noch optimistischer – die Franzosen taxieren das Kursziel des DAX auf 8600 Punkte.
Ganz anders beurteilt die Investmentbank Morgan Stanley die Lage. Sie warnt ihre Kunden vor einem deutlichen Kurseinbruch: Die Abwärtsbewegung der europäischen Aktienmärkte könnte insgesamt sechs bis zwölf Monate andauern, die Indizes auf die alten Tiefstände vom März zurückfallen. Anleger sollten nicht zu früh auf eine Trendwende setzen. Geduld sei der Schlüssel zum Erfolg. Die DZ Bank sieht den DAX in ihrem Worst-Case-Szenario auf 4500 Punkte fallen. Bullen gegen Bären – selten gingen die Meinungen der Börsenprofis so extrem auseinander.
Streitpunkt Bewertung: Wie teuer ist der DAX wirklich? Aktuell wird der deutsche Leitindex laut Daten des Finanzdienstes Bloomberg mit einem Kurs/Gewinn-Verhältnis von rund elf bewertet. Der historische Durchschnitt seit 1973 liegt bei 15,7. Würde sich die Bewertung also dem Mittel annähern, hätte der DAX theoretisch ein Aufwärtspotenzial von mehr als 40 Prozent. Auch die Dividendenrendite ist auf historisch hohem Niveau – bei neun der 30 Konzerne aus dem Index wird sie derzeit auf mehr als vier Prozent taxiert, bei Lufthansa und der Deutschen Telekom sogar mehr als sieben Prozent.
Gewinnschätzungen haben allerdings eine Schwachstelle: Analysten liegen mit ihren Prognosen oft falsch. Und schon kleine Anpassungen haben großen Einfluss auf die Indizes. Würden die Gewinne der DAX-Unternehmen zum Beispiel fünf Prozent niedriger ausfallen als bislang in der Konsensschätzung angenommen, müsste der Index um mehr als 300 Punkte fallen, nur um das Bewertungsniveau zu halten.
Vor allem die Schätzungen für das Jahr 2009, für das Börsianer beim DAX einen zweistelligen Gewinnzuwachs einkalkulieren, sind ambitioniert. Sie dürften sich "kaum realisieren lassen, da sich nicht nur für die USA, sondern auch immer deutlicher in Europa die Konjunktur abkühlt", gibt die Privatbank M.M. Warburg zu bedenken.
Nimmt man statt des KGV das KCV, also das Verhältnis von Kurs und Cashflow, dem frei verfügbaren Kapital der Unternehmen, kann von einer Überbewertung keine Rede sein. Der DAX bewegt sich fast exakt auf dem Durchschnittsniveau der vorangegangenen Jahre.
Streitpunkt Gewinnentwicklung: Durch Wachstum in den Schwellenländern und Produktionsverlagerung ins Ausland haben die Unternehmen ihre Eigenkapitalrendite deutlich steigern können. Im vergangenen Jahr erreichte sie auf europäischer Ebene mit 18 Prozent ein Rekordniveau. Doch das Optimierungspotenzial könnte ausgereizt sein. Immer mehr Unternehmen beklagen, dass die Lohnkosten in China steigen. Gleichzeitig drängen in den Heimatländern die Beschäftigten auf Gehaltserhöhungen. Auch die steigenden Rohstoffpreise belasten.
Selbst die Optimisten unter den Börsianern erwarten nicht, dass die Renditen im aktuellen Umfeld weiter gesteigert werden können. Dank der hohen Wachstumsdynamik in den Schwellenländern könnten sie aber auf dem aktuellen Niveau gehalten werden, kalkuliert BNP Paribas. Die Vergangenheit freilich stützt diese Zuversicht nicht, kontern die Bären. Sollte die Rendite auf 14 Prozent, den Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre, fallen, würde das nach Berechnung von Morgan Stanley die Unternehmensgewinne um rund 20 Prozent drücken.
Die Geschäftszahlen des DAX im ersten Quartal bestätigen eher die Sorgen der Pessimisten. Laut DZ Bank vermeldeten 19 der 30 DAX-Unternehmen einen Gewinnrückgang. Nahezu jede vierte Firma verfehlte die Konsensschätzungen. Das ist der schlechteste Wert seit dem ersten Quartal 2005.
Streitpunkt US-Konjunktur: Die amerikanische Notenbank hat die Zinsen drastisch auf 3,25 Prozent gesenkt. Das soll billige Kredite in den Markt spülen und das Wachstum stimulieren. Die Regierung verteilt über ein Sonderprogramm 100 Millionen Dollar an Steuererleichterungen an die US-Bürger, um den privaten Konsum anzukurbeln; weitere 60 Millionen Dollar gehen an kleinere und mittelgroße Unternehmen. Das Programm wird, so das Kalkül der Bullen, die US-Konjunktur im zweiten und dritten Quartal stützen und damit die Zeit überbrücken, bis die Zinssenkungen wirken. Wichtige Konjunkturdaten haben im ersten Quartal eine Stabilisierung der US-Wirtschaft signalisiert, etwa der Einkaufsmanagerindex für die Dienstleistungsunternehmen, der über die kritische Marke von 50 Punkten stieg. Die Zuwachsraten der Supermarktkette Wal-Mart im Mai sprechen dafür, dass viele Amerikaner ihren Steuerbonus tatsächlich investieren.
Trotz positiver Signale, kontern die Bären, bleiben die Risiken groß. Branchen wie Wohnungsbau und Automobil befinden sich bereits in einer Rezession. Schwache Arbeitsmarktdaten belasten Kaufkraft und Stimmung der Verbraucher, die ohnehin unter steigenden Energiekosten und fallenden Immobilienpreisen leiden. "Derzeit kaschieren noch die Steuerschecks das geringere Konsumpotenzial der US-Amerikaner, doch mit dem Auslaufen dieses temporären Effekts könnten sich die Wachstumsraten ab dem vierten Quartal 2008 wieder erheblich abschwächen", kalkuliert M.M. Warburg.
Streitpunkt Kreditkrise: Gut 350 Milliarden Dollar haben die Banken durch die US-Immobilienkrise bislang abgeschrieben. Auch wenn die Aktienkurse der Geldhäuser dramatisch gefallen sind, blieb ein Kollaps aus. Vor allem dank zahlungskräftiger Staatsfonds konnten die Banken ihre Bilanzlöcher über Kapitalerhöhungen decken. Für die Bullen ist die Investitionsbereitschaft großer Geldgeber ein Signal, dass die Krise im Wesentlichen bewältigt ist.
Weniger euphorisch sieht Unicredit die Entwicklung. Die Investitionen asiatischer und arabischer Staatsfonds seien nicht zwingend durch direkte wirtschaftliche Interessen motiviert, sondern womöglich politisch. Sie würden daher, anders als ein klassischer Aktionär, Kursverluste in Kauf nehmen. Fraglich sei auch, wie lange der Geldstrom anhalten wird: Bislang sei die Hilfe aus dem Ausland willkommen. Die Staatsfonds würden aber auf politischen Widerstand stoßen, sobald ihr Einfluss zu groß werde.
Weitere Finanzlöcher könnten die Krise zudem jederzeit verschärfen. Vergangene Woche schockte Lehman Brothers mit der Meldung, sechs Milliarden Dollar zu benötigen. Auch bei anderen Wallstreet-Banken fürchten Analysten jetzt Zusatzlasten in Milliarden-Höhe. "Viele machen sich Sorgen, dass jetzt doch wieder eine Welle schlechter Nachrichten aus der Finanzbranche kommt", heißt es in der Frankfurter Börsenszene.
Im ungünstigsten Fall wird sich die Krise des Finanzsektors auf andere Branchen ausweiten, weil Banken Risikopositionen vermeiden und nur zögerlich Kredite vergeben. Das wiederum würde die Wirkung der Zinssenkungen der Notenbank gefährden und den von den Bullen einkalkulierten Konjunktureffekt stoppen. Es wäre das erste Mal in der Geschichte, dass eine Bankenkrise von solchem Ausmaß nicht auf die Realwirtschaft übergreifen würde, warnen die Strategen der Unicredit.
Bullen gegen Bären. So widersprüchlich die Meinungen der Profis sind, so groß sind die Chancen für Privatanleger, die rechtzeitig Trends erkennen. Die Rally nach der Rettung von Bear Stearns im März hat die Kurse deutlich nach oben getrieben, Topwerte wie K + S, Q-Cells um mehr als 70 Prozent. Seit Mai hingegen ging es dann für Titel wie Arques und ProSiebenSat1 um fast 30 Prozent nach unten.
Die Kursschwankungen dürften allein schon aufgrund der widersprüchlichen Markteinschätzungen anhalten. Konjunkturdaten, vor allem vom US-Arbeitsmarkt, werden ebenso wie der Ölpreis und Meldungen aus dem Finanzsektor Kursausschläge provozieren. Anfang Juli rücken dann die Geschäftsberichte zum zweiten Quartal in den Fokus.
Anleger, die sich angesichts der Risiken vom Aktienmarkt verabschieden, sind vor Verlusten geschützt, laufen aber Gefahr, Kursgewinne zu verpassen, da die Börse erfahrungsgemäß frühzeitig auf eine Konjunkturerholung reagiert. Allerdings sollten Cash-Positionen nicht übereilt abgebaut werden. Als Orientierung auch für Trader dienen charttechnische Barrieren – im DAX aktuell als Widerstand nach oben die Marken 6850 und 7000 Punkte. Unterstützungszonen bei 6400 und 6200 sollten dem DAX Halt geben.
Und gerade Aktien, die von Megatrends wie Infrastruktur und Rohstoffen langfristig profitieren, sind günstig zu haben.