Investitionsstau in Polens Stromwirtschaft
Eigenmittel einheimischer Konzerne decken nur ein Drittel der Kosten / Kraftwerk Belchatow weiht 858-MW-Block ein / Von Heiko Steinacher
Warschau (gtai) - Experten schätzen, dass Polens Energiewirtschaft in den nächsten zehn Jahren 170 Mrd. bis 200 Mrd. Zl (rund 39 Mrd. bis 46 Mrd. Euro) in die Modernisierung und Erweiterung ihrer Erzeugungs- und Übertragungskapazitäten investieren muss, wobei in diese Summe noch nicht die Kosten für den geplanten Bau von Kernkraftwerken eingerechnet sind. Wegen der angesichts strenger EU-Umweltauflagen drohenden Abschaltung alter Blöcke könnten viele Projekte schon in den nächsten Jahren angegangen werden.
Sofern sich ihre Finanzlage bis dahin nicht wesentlich ändert, werden die vier großen polnischen Energiekonzerne - PGE, Tauron, Energa und Enea - bis zum Jahr 2016 aus Eigenmitteln etwa 50 Mrd. bis 55 Mrd. Zloty (September 2011: 1 Euro = 4,3379 Zl) aufbringen können. Diese Schätzung geht indes davon aus, dass die Unternehmen in diesem Zeitraum CO2-Emissionsrechte nicht kostenpflichtig erwerben müssen, was noch nicht gesichert ist. Für die Durchführung der zahlreichen Projekte ist Polen daher auf die Unterstützung ausländischer Investoren angewiesen.
Entgegen früherer Ankündigungen wird in den nächsten Jahren neben dem in Belchatow kein weiterer, neuer Kraftwerksblock ans Netz gehen können. Denn keines der anvisierten Projekte ist bisher über das Planungsstadium hinausgekommen. Im Braunkohlekraftwerk Belchatow hat PGE im Spätsommer 2011 den mit einer Leistung von 858 MW größten Kohlekraftwerksblock Europas in Betrieb genommen. Dieser soll bis Jahresende 2015 um eine CCS-Anlage zur CO2-Abscheidung und -speicherung erweitert werden, für die im Kraftwerk gerade ein Pilotprojekt läuft. Für diese Investition hat PGE bereits EU-Fördergeldzusagen in Höhe von 180 Mio. Euro erhalten, weitere Mittel wurden beantragt (geschätzter Gesamtaufwand umgerechnet 600 Mio. Euro).
Für einige große Kohlekraftwerksblöcke sind Ausschreibungen bereits angelaufen. Der südpolnische Energiekonzern Tauron bereitet einen 910-MW-Block im Kraftwerk Jaworzno III vor, PGE zwei Blöcke à 800 bis 900 MW im Kraftwerk Opole und einen weiteren à 460 MW in Turow. Enea will einen 1000-MW-Block in Kozienice bauen, Energa einen etwa gleichgroßen in Ostroleka sowie zwei à 780 beziehungsweise 1.050 MW im Kraftwerk Polnoc in der pommerschen Gemeinde Pelplin. Bis auf Turow (auf Braunkohlebasis) sollen alle genannten Kraftwerke mit Steinkohle betrieben werden.
Beobachter gehen davon aus, dass sich in den nächsten Jahren Gas- schneller als herkömmliche Kohlekraftwerke entwickeln könnten. Nicht so sehr wegen des niedrigeren CO2-Ausstoßes, sondern vor allem deshalb, weil Gas zur Deckung von Spitzenlasten bei der Energieerzeugung in Polen eine immer größere Rolle spielt. Die Zukunft der Gaskraftwerke ist aber angesichts gestiegener Erdgaspreise, Lieferrisiken (bei Bezug aus politisch instabilen Regionen) und begrenzter Kapazitäten vorhandener Gasleitungen mit Unsicherheiten behaftet.
Neue Gasblöcke sind in der Kraft-Wärme-Kopplungsanlage in Stalowa Wola (400 MWe) und im Kraftwerk Blachownia (800 bis 910 MWe) vorgesehen. PKN Orlen will einen 400- bis 450-MW-Block in Wloclawek, Energa und die Gruppe ESB International einen 800-MW-Block in Grudziadz hochziehen. PGE erwägt, gemeinsam mit dem Stickstoffwerk in Pulawy einen Block mit einer Kapazität von 840 MWe zu bauen, und auch der Chemiebetrieb in Police will zusammen mit PGE ein ähnliches Projekt realisieren. Ambitionierte Pläne zum Bau von Gaskraftwerken verfolgen auch Tauron, CEZ, Orlen, Lotos und Dalkia.
Doch stehen die meisten dieser Projekte bislang nur auf dem Papier. Vor allem die Vielzahl dabei benötigter und zu koordinierender, technischer Systeme erschwert eine zügige Umsetzung. Im Kraftwerk Belchatow kommen beispielsweise über 70 verschiedene Technologien zum Einsatz. Rund 85% der Lieferanten bei der Modernisierung des oberschlesischen Kraftwerks waren polnischer Herkunft, was die Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Betriebe gegenüber der ausländischen Konkurrenz merklich gesteigert haben dürfte.
Investitionen der Energieverteiler und Übertragungsnetzbetreiber (Mio. Zl)Unternehmen 2010 2011 *)
PSE Operator 494 655
PGE 1.060 1.200§
Tauron 965§1.200
Energa Operator etwa 930 1.240
Enea Operator 583 802
RWE Stoen Operator 170 198
*) Plan
Quelle: Unternehmen
Fachleute kritisieren große Zeitverzögerungen infolge des hohen formalen Aufwands im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen, und dass in diesem Zusammenhang kaum Platz für Managerentscheidungen bestehe. Auch gebe es in Polen noch zu wenige Baufirmen mit Erfahrung im Energiebau. Größere Konzerne haben sich erst in den letzten Jahren verstärkt etwa von Straßenbau- auf energiewirtschaftliche Bauprojekte umgestellt. Zum Einen wegen erwarteter, hoher Auftragsvolumina und zum Anderen höherer Margen, welche die Energiewirtschaft angesichts des geringeren Konkurrenzdrucks im Vergleich zum Beispiel zu Autobahnbauprojekten ermöglichte. Sollten in Zukunft daher zeitgleich mehrere Kraftwerksblöcke gebaut werden, könnte es schwierig werden, genügend Auftragnehmer im eigenen Land zu finden. Was es internationalen Konzernen, die gewöhnlich in Konsortien mit lokalen Partnern zusammen arbeiten, nicht unbedingt leichter machen wird, Aufträge zu akquirieren. (S.H.)
Quelle: www.gtai.de/fdb-SE,MKT201110058002,Google.html